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Das Weisse Kleid Des Todes

Das Weisse Kleid Des Todes

Titel: Das Weisse Kleid Des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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Verfolger ihr nicht auf diesem Weg nachsetzen würde, denn jetzt war sie ihm ausgeliefert. Keine Zeit, um Alternativpläne zu entwickeln. Sie kletterte auf den Grund der Schlucht hinab und schnitt eine Grimasse, da ihre durchnässte Hose an ihren Beinen klebte.
    Einen einzigen Pulsschlag lang balancierte sie auf einem Felsen am Rande des schwarzen rauschenden Wassers. Hätte sie eine halbe Stunde Zeit, dann würde sie es vielleicht schaffen, von Stein zu Stein bis zu den Hügeln zu springen, ohne dass ihre Füße nass wurden. Doch ihre Zeit war in Minuten und Sekunden bemessen. Also stieg sie in den kalten Bach. Das Wasser war so eisig, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb, reichte ihr aber nur bis über die Knöchel. Sie lief los, flussabwärts, und immer schneller, je besser sie auf dem glatten Geröll am Rand des Baches Tritt fasste. Es war ein Gefühl, als hätte sie in jeder Zehe Schmerzen, und jedes Gelenk in ihrem Körper tat weh.
    Die Arme vorgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten, und die Zähne fest zusammengebissen, patschte sie durch die halb gefrorenen Fluten vorwärts. Als sie nach einer Weile aufblickte – sie bemerkte gerade die dunkleren Felsen – sah sie, dass sie bei den Hügeln angekommen war. Sie sprang aus dem Bach und schüttelte ihre Füße, um möglichst viel Wasser aus ihren Stiefeln herauszubekommen.
    Zwischen Bach und Schnee lag ein Haufen Geröll, feucht, glitschig, aber noch nicht vereist. Clare bückte sich und hob einen Stein auf. Er lag gut in der Hand: knappe fünf Pfund schwer und flach genug, um ihn notfalls auch an der Kante zu halten. Eine bessere Waffe würde sie hier nicht finden, außer es gelänge ihr, dem Mann im Schneeanzug seinen Revolver zu entreißen. Sie verstaute den Stein in einer Tasche des Parkas und begann den Hang hinaufzuklettern, wobei ihr der Stein an den Schenkel schlug. Es war ein schwieriger Aufstieg. Außerstande, ihre Zehen zu krümmen, musste Clare mit der Außenkante ihrer Stiefeletten Halt suchen und hoffen, dass sie nicht abstürzte.
    Sie schaffte es. Am oberen Rand angekommen, brach sie im Schutz einer Tanne zusammen. Noch kein Licht in der Ferne. Ihre Erleichterung darüber war groß genug, sie wieder auf die Beine zu treiben. Sie betrachtete den soeben erklommenen Hügel. Ihr einziger Fluchtweg, falls ihr Hinterhalt nicht klappte, wäre in die Schlucht zurück. Sie könnte sich sekundenschnell hinunterrollen, in jeder Richtung davonlaufen und sich verstecken. Eine Zeit lang.
    Ihren Kopf immer eine Handbreit über den Felsen, um freie Sicht zu haben, watete sie durch den Schnee – den einen Hang hinunter, den anderen hinauf, stets nach den Bäumen Ausschau haltend, die sie sich gemerkt hatte. Verblüffenderweise taten ihr die Füße nicht mehr so weh. Sie spürte ein leichtes Stechen oder Prickeln, empfand die Kälte aber nicht mehr als so schneidend wie zuvor.
    Bei einer Gruppe von Kiefern kroch sie auf allen vieren über den Höhenkamm. Die Tannen, zu denen sie die Spur gelegt hatte, befanden sich fast direkt unterhalb von ihr, nur ein paar Meter entfernt. Clares Verfolger würde ihnen in einem Bogen ausweichen und dabei stets seinen Revolver vor sich halten. Wenn er merkte, dass sie nicht da war, würde er den nächsten offensichtlichen Schlupfwinkel ansteuern: die Kiefern auf dem Kamm des Hügels. Das Gebüsch linker Hand käme ihm vermutlich zu dicht vor, um leicht den Hang zu erklimmen, also würde er links davon bleiben. Das hoffte sie zumindest. Ohne die Zeit zum Bau eines Hindernisses, das ihn auf den Hinterhalt zutrieb, müssten die vorhandenen Gegebenheiten genügen. Oder nicht.
    Sie kehrte um, kroch über den Höhengrat und etwa ein halbes Dutzend Schritte zurück. Ab dieser Stelle ging sie wieder aufrecht, tief geduckt und mit langen Schritten, um möglichst wenige Fußspuren zu hinterlassen. Auf halber Strecke zwischen den beiden Nadelbaumgruppen entdeckte sie, was sie suchte: eine junge Birke, nur um einiges höher als ihr Kopf, fast ohne Zweige und schlank genug, dass Clare ihren Arm darumlegen konnte. Rasch und entschlossen öffnete sie die Schleife unter ihrem Kinn und zog die lange Kapuzenschnur heraus. Sie streckte sich nach dem Wipfel des elastischen Stamms, bog ihn herab und hielt ihn fest, während sie das eine Ende der Schnur um ein paar kleine Zweige weiter oben verknotete.
    Keine zwei Meter von ihr lagen die braunen Überreste einer umgestürzten Kiefer; wirres Geäst und tote Nadeln ragten kaum dreißig

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