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Das Weisse Kleid Des Todes

Das Weisse Kleid Des Todes

Titel: Das Weisse Kleid Des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Spencer-Fleming
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den Kopf ihn nicht töten würde. Und das wollte sie nicht. Das musste sie nicht. Er atmete, ein Seufzen. Sie musste lediglich zusehen, dass sie vor ihm beim Fahrzeug war.
    Sie ging um ihn herum und kauerte sich direkt neben seine Füße. Er hatte Jagdstiefel aus Leder und Gummi an, so wie LL Bean sie machte, die beide unter die Elastikbündchen seines Schneeanzugs gesteckt waren. Clare schob das wattierte Nylon an der Wade hoch. Der Stiefel war bis gut über den Knöchel geschnürt und fest verknotet. Noch einmal riss sie ihre Handschuhe herunter, stopfte sie sich in die Tasche und zog an der doppelt verknoteten Schleife, die unter ihren Fingern auseinander fiel. Clare löste hastig die Schnürsenkel aus der schier endlosen Reihe von Haken auf beiden Seiten der Lasche. Dann öffnete sie einen zweiten Doppelknoten, drehte Schuhkappe und -ferse leicht zwischen ihren Händen hin und her und zog dem Mann den Stiefel aus. Sie rümpfte die Nase wegen des sauren Geruchs. Der Mann stöhnte lauter als beim ersten Mal.
    Sie schob das andere Hosenbein nach oben und riss an dem Knoten des linken Stiefels. Der Mann stöhnte erneut. Sein Bein zuckte. So schnell ihre steifen Finger es konnten, löste Clare die Schnur aus den Haken. Sie hörte, wie der Kopf des Mannes sich leicht bewegte. Mit rissigen, abgebrochenen Nägeln und dem Hämmern ihres Herzens im Ohr fummelte sie an dem zweiten Knoten herum. Er löste sich ein paar Zentimeter, dann verhedderte er sich. Sie zwängte ihre Hände in den Stiefelschaft, setzte sich auf die Fersen und zog ruckartig. Den Stiefel in der Hand, fiel sie rücklings in den Schnee.
    Ihr Angreifer rief etwas. Clare konnte es nicht verstehen. Sie ließ die Lampe in eine Tasche ihres Parkas gleiten, klemmte sich je einen Stiefel unter die Arme und hastete schlitternd, rutschend, stolpernd bergab. Erst nach mehreren Sekunden fand sie ihre falsche Fährte wieder. Die Nacht war jetzt endgültig hereingebrochen, und Einzelheiten, die sich in der blauen Dämmerung noch abgezeichnet hatten, wurden von Dunkelheit und dem unnachgiebig fallenden Schnee verschluckt.
    Clare wollte zu der Stelle unterhalb des Hügelkamms, von wo aus sie ihren Hinterhalt gelegt hatte. Falls sie sich nicht allzu sehr täuschte, dann führte dieser Höhenzug zur Hauptstraße. Die Lampe in ihrer Tasche schlug ihr schwer an den Schenkel – ungeeignet, um damit zwischen den Bäumen und im Sturm den richtigen Weg zu suchen. Clare würde sie nur als letzte Notlösung benutzen, falls sie sich von hier zu dem Forstweg zurücktasten müsste. Sonst machte sie sich damit nur zur Zielscheibe. Sie klemmte die Stiefel fester unter die Arme. Nicht dass sie ernsthaft glaubte, ihr Verfolger könne sie jetzt noch einholen.
    Von dem Hang hinter ihr ertönte ein wütender Schrei, und sie blieb schlitternd stehen. Ihre Füße waren wie abgestorben, ihre Beine brannten und stachen vor Kälte, ihre Arme fühlten sich steif an und schmerzten. Sie drehte sich um, packte die Stiefel mit ungeschickten Händen und hob sie über den Kopf.
    »Schieß in den Wind, du Penner! Ich werd mir deine Stiefel über den Kamin hängen und dich jedes Mal auslachen, wenn ich sie sehe!« Sprach’s und eilte davon. Noch ein verzerrter, halb erstickter Wutschrei. »Drecksweib!« und »… bring dich um« konnte sie verstehen. Da krachten Zweige, und ein tiefes Donnern war zu hören, als eine Ladung Schnee von einem Nadelbaum rutschte. Kam er ihr hinterher? Den Schnee wegblinzelnd, kämpfte sich Clare vorwärts, auf der verzweifelten Suche nach diesem Höhenzug.
    Sie stieß buchstäblich mit der Nase darauf: Ihre gefühllosen Füße prallten auf einen am Boden versteckten Ast, und sie fiel der Länge nach hin. Sie wischte sich das Gesicht ab und tastete nach den Stiefeln. Die Handschuhe zwischen die Zähne geklemmt, knotete sie die beiden Schnürsenkel zusammen und hängte sich die Stiefel über die Schulter. Dann stieg sie den Hang hinauf, nach jedem Geräusch lauschend, das ihren Verfolger verraten könnte. Clare konnte unmöglich sagen, ob er kapituliert hatte oder ob seine Schritte von Schnee und Bäumen gedämpft wurden. Die mächtige Stille des Waldes irritierte ihren Orientierungssinn.
    Auf dem Kamm angekommen, suchte Clare halb gebückt ihre alte Fährte. Zu guter Letzt fand sie Spuren, die von dem herabfallenden Schnee schon fast bedeckt waren. Sollte sie es darauf ankommen lassen, ob der Höhenzug zu der Straße zurückführte? Oder hoffen, dass noch genug Spuren zu

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