Das Weisse Kleid Des Todes
erkennen waren, und den Forstweg nehmen?
Ein scharfes Knacksen ertönte, gefolgt von einem Rascheln. Unmöglich zu sagen, wie weit weg. Clares Herz arbeitete auf Hochtouren, um ihr halb erfrorenes Blut in die steifen Extremitäten zu pumpen. Zeit für den letzten Schlag. Sie warf noch einmal einen Blick auf die verwischten Spuren, die sie bei ihrer Flucht von der Forststraße hinterlassen hatte, dann watete sie in den jungfräulichen Schnee zu ihrer Rechten.
Es ging nur langsam vorwärts: Über Äste und um Bäume herum stapfte sie, trat immer wieder daneben, weil sie sich vorkam, als ginge sie auf Holzkisten, und außerstande war, den Boden unter ihren Füßen zu erkennen. Mal stolperte sie die eine, mal die andere Seite des schmalen Höhengrats hinunter und kletterte dann mühselig wieder hinauf.
Lautlos und unerbittlich drang die Kälte in sie ein. Clares Beine waren inzwischen taub, und trotz ihres Parkas zitterte sie wie im Schüttelfrost, doch auch Zittern half nicht, die eisige, klamme Feuchtigkeit zu vertreiben. Ihr Gesicht schien nur noch nacktes Fleisch, ihre Hände fremd und ungelenk. Selbst ihr Gehirn war wie steif gefroren. Statt wachsam nach jedem Geräusch ihres Angreifers zu lauschen, ließ ihre Aufmerksamkeit nach. Sie war wie hypnotisiert von der Bewegung, mit der ihre Beine den Schnee durchpflügten, vom stetigen Schneegestöber, das die Luft erfüllte, von den Bäumen, an die sie stieß. Birke, Tanne, Birke, weiß nicht, Kiefer, Kiefer, Lärche.
Plötzlich bemerkte sie erschrocken, dass sie von dem Höhenzug abgewichen und dass der schmale Felsengrat nahtlos in Waldboden übergegangen war – kein Hang auf beiden Seiten, der sie in eine bestimmte Richtung führte. Kein Indiz, wohin sie gehen sollte. Nichts, was sie davon hätte abhalten können, im Kreis zu irren, bis sie der Kälte erlag. Es heißt, Erfrieren wäre ein schöner Tod, bemerkte der alte Stabsfeldwebel. Tränen der Wut und Frustration stiegen ihr in die Augen und strömten über ihr Gesicht: ein heißes, salziges Gefühl auf ihrer eisigen Haut. Clare zog einen Handschuh aus, wischte die Tränen mit dem Handballen weg und holte zitternd Luft. Okay. Sie würde sich per Linienpeilung orientieren, selbst wenn sie nur ein paar Meter weit sehen konnte – würde versuchen, Baum für Baum einen geraden Weg beizubehalten. Erreichte sie die Straße nicht in … einer halben Stunde, dann würde sie sich eingraben. Zweige und Tannenäste boten einigermaßen Schutz. Der Schnee selbst war eine wärmedämmende Substanz.
Clare musste ihren Rücken zwingen, sich aufzurichten, ihre Beine, sich vorwärts zu bewegen. Selbst Clares Furcht hatte sich inzwischen abgekühlt, war zu eiskalter Verzweiflung geworden. Sie wählte einen Baum als Anhaltspunkt und stolperte durch den Schnee, dann den nächsten Baum, den nächsten, den übernächsten.
Als sie aus dem Augenwinkel den ersten Lichtstrahl wahrnahm, registrierte sie ihn kaum. Das Licht blitzte noch einmal auf, und sie riss ihren Kopf nach links. Es war der Strahl einer Taschenlampe, ein starker Strahl, aus einiger Entfernung im Wald. Sie lehnte sich Halt suchend an eine Birke. Entweder war sie gerettet, oder es waren zwei Männer. Sie musste jetzt nur noch herausfinden, was von beidem.
Unwillkürlich musste sie kichern. Jawohl, sie brauchte dem da lediglich auflauern, ihn zu Fall bringen und ihm mit ihrer Taschenlampe eins überziehen. Dann könnte sie seine Autoschlüssel nehmen. Sie kicherte erneut, schrill und unkontrolliert. Stress und Anspannung, sagte mit gedehntem Akzent der Stabsfeldwebel, vernebeln den klaren Verstand. Sie unterdrückte ein Kichern, bekam Schluckauf, kicherte erneut. Dann schlug sie sich dreimal fest auf den Unterleib. Als sie wieder ruhig war, machte sie sich auf den Weg zu dem Licht.
»Zentrale Zehn-fünfzehn, hier Wagen Zehn-fünfzig-sieben.« Mit spitzen Fingern nahm Russ den Schaumstoffbecher voll heißem Kakao und pustete darauf.
»Wagen Zehn-fünfzig-sieben, hier Zentrale.«
»Hey, Harlene. Hast du Lyle und Noble inzwischen erwischt?«
»Lyla, ja. Sagte, er kann kommen. Noble ist bislang unauffindbar.«
Russ trank einen Schluck Kakao und wischte sich Schlagsahne von der Oberlippe. Seine Arterien verstopften wahrscheinlich bereits, während er im Leerlauf auf dem Parkplatz der Bäckerei stand, aber an einem stürmischen Winternachmittag ging nichts über den selbst gemachten Kakao hier. Später, wenn Linda tiefgekühlte Diätkost servierte, würde er Buße
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