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Das weiße Krokodil

Das weiße Krokodil

Titel: Das weiße Krokodil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. C. Bergius
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jetzt wird nicht geschlafen. Das magst du später tun. Zunächst mußt du dir meine Geschichte anhören.«
    Das Krokodil duckte sich und preßte die Schnauze auf den Boden.
    »So ist es brav«, fuhr Tie-tie anerkennend fort. »Und nun beginne ich mit der Erzählung, die ich mir einmal ausgedacht habe, um einigen Jungen, die in einem Ameisenhaufen herumstocherten, klarzumachen, was Gedankenlosigkeit anrichten kann. Paß also gut auf!
    In der Nähe einer wunderschönen Waldlichtung wurde eines Tages eine kleine Ameise geboren, die so merkwürdig gewachsen war, daß niemand etwas mit ihr anzufangen wußte. Sie hatte den schlanken Körper der männlichen Tiere, besaß ebenfalls deren gut ausgebildete Augen, verfügte aber über keine langen Fühler, so daß man im ersten Moment glaubte, ein verkümmertes Männchen vor sich zu haben. Dagegen sprachen ihre hübsch geformte Taille und ihre hochentwickelte Intelligenz, die sie eindeutig als weibliche Ameise kennzeichneten. Man wollte sie deshalb schon in die Gruppe der als Arbeiter dienenden, nicht voll ausgebildeten Weibchen einreihen, als sich herausstellte, daß sie über eine untadelige Samentasche verfügte. Zur Fortpflanzung aber konnte sie nicht gelangen, weil ihr Brustabschnitt nicht dem der Geschlechtstiere entsprach. Sie paßte einfach in kein Schema und ließ sich nirgendwo einordnen, was zur Folge hatte, daß man ihrer überdrüssig wurde und sie ein wenig verächtlich ›Xenia‹, Fremdling, nannte.
    Unserer kleinen Ameise machte das nichts aus. Sie hatte ein frohes Gemüt, ging von morgens bis abends ihrer Wege und grämte sich nicht darüber, daß sie zu keiner Arbeit herangezogen wurde. Aber sie war auch nicht glücklich, da sie tagsüber immer allein sein mußte. Und wenn sie zur Dämmerstunde in den Bau ihres Volkes zurückkehrte, waren alle Ameisen von der Last des Tages so erschöpft, daß sie nur noch schlafen und sich nicht unterhalten wollten.
    Unhöflich war allerdings niemand zu ihr. Man betrachtete sie als Gast des Staates und vergaß zu keiner Stunde, daß man einem friedfertigen Volk angehörte, das Feindseligkeiten verabscheute und ausschließlich für die Arbeit lebte.
    Von dieser war Xenia jedoch ausgeschlossen, und die sich daraus ergebende Einsamkeit betrachtete sie als gerechten Ausgleich dafür, daß sie ein unbeschwertes und unabhängiges Leben führen durfte. Alles auf Erden hat eben zwei Seiten, und die kleine Xenia war vernünftig genug, nicht mit ihrem Schicksal zu hadern. Sie wandte sich vielmehr der Sonnenseite ihres Daseins zu und begab sich jeden Morgen zu der in der Nähe des Ameisenstaates gelegenen Waldlichtung, wo sie bei gutem Wetter so lange durch die Wiese krabbelte, bis sie eine besonders schöne Blume entdeckte, an deren Stiel sie behende emporkletterte, um sich an ihrem Honig zu erlaben. Anschließend begann sie mit der Reinigung ihrer Fühler und anderer wichtiger Körperteile, und es war recht lustig, ihr während der Säuberungsprozedur zuzuschauen, da sie die sonderbarsten Stellungen einnehmen mußte, um sich der an den Vorderbeinen befindlichen Putzapparate bedienen zu können.
    An Regentagen hingegen suchte sie sich am Rande des Waldes Nahrung aus pflanzlichen und tierischen Stoffen. Diese verzehrte sie jedoch nicht sogleich, sondern bewahrte sie in ihrem Kropf auf, bis sie ein Blatt fand, das ihr neben dem erwünschten Schutz auch Aussicht auf die hübsche Waldlichtung gewährte. Und hier nun würgte sie behutsam alles aus, um sich in Ruhe dem Genuß einer ungestörten Mahlzeit hingeben zu können. Sie machte eben aus allem ein kleines Fest, und das tat sie auch an jenem denkwürdigen Tage, der ihr Dasein grundlegend verändern und ihrem Leben einen höheren Sinn geben sollte.
    Doch das ahnte sie nicht, als sie eines Morgens eine Blüte fand, die so ergiebig war, daß sie sich ohne Anstrengung vollschlürfen und zu guter Letzt noch ihren Kropf füllen konnte. Die Folge war eine gewisse Müdigkeit. Sie legte sich deshalb auf die weichen Staubgefäße der langstieligen Blume, um sich vom sanft über die Wiese streichenden Wind in den Schlaf wiegen zu lassen.
    Aber kaum hatte sie sich ausgestreckt, da vernahm sie ein in kurzen Intervallen immer wiederkehrendes Klopfen, das nur von einer in Not geratenen Ameise herrühren konnte. Sogleich war sie auf den Beinen. Mit einer Geschwindigkeit, die ihr niemand zugetraut hätte, raste sie zum Blütenrand und von dort aus am Stiel entlang in die Tiefe, wo sie sekundenlang

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