Das weiße Krokodil
um: es gibt nichts zu tun, da ich täglich Unkraut zupfe. Die Wege sind gut begehbar.«
»Um so besser«, entgegnete Yen-sun. »Dann können wir uns ja in Ruhe eine Weile unterhalten.«
Tie-tie nickte lebhaft. »Das ist mir sehr lieb, da ich etwas mit dir besprechen möchte.«
»Bitte, ich stehe dir zur Verfügung.«
Solche Redewendungen hat er früher nicht gekannt, schoß es Tie-tie durch den Kopf.
»Wollen wir uns hierhersetzen oder zur Pagode begeben?«
»Gehen wir nach oben«, antwortete Tie-tie.
Yen-sun wandte sich an seine Kameraden. »Ihr könnt inzwischen auspacken und die Sachen hinaufschaffen.«
»Geht in Ordnung, Boß!«
»Was heißt: Boß?« erkundigte sich Tie-tie, als er mit Yen-sun die Stufen emporstieg.
»Soviel wie Chef.«
»Du bist jetzt ihr Chef?«
»Das war ich immer.«
»Du sprachst früher aber anders mit ihnen.«
»Nun ja, damals waren wir nur zu dritt. Inzwischen hat sich manches geändert. Ich habe bereits acht Angestellte, und wenn alles so läuft, wie ich es möchte, dann werden es eines Tages achtzig sein. Vielleicht sogar noch mehr. Da ist es nicht gut, wenn man zu vertraut mit ihnen ist. Personal, das nicht hart angefaßt wird, tanzt einem auf der Nase herum.«
»Gilt das in jedem Falle?« fragte Tie-tie, sich dumm stellend.
»Natürlich!«
»Auch bei weiblichen Angestellten?«
Yen-sun sah Tie-tie aus verkniffenen Augen an. »Worauf willst du hinaus?«
»Auf nichts. Mich interessiert nur, ob du beispielsweise auch die neuerdings eingestellte Gehilfin grundsätzlich hart anfaßt.«
Yen-sun lachte hölzern. »Ach, daher weht der Wind. Du scheinst anzunehmen, daß sie und ich…« Er schüttelte den Kopf. »Was hat dich bloß auf eine solche Idee gebracht?«
»Um ehrlich zu sein: das Grinsen deiner Kameraden, als von der Gehilfin die Rede war.«
»Die sollen sich gefälligst um ihren eigenen Mist kümmern!«
»Willst du damit sagen: Und nicht um deinen?«
Yen-sun wurde wütend. »Wie kommst du dazu, mir Worte in den Mund zu legen, an die ich nicht im entferntesten gedacht habe!«
»Das will ich dir erklären«, antwortete Tie-tie in aller Ruhe. »Du bist so verändert, daß ich dich überhaupt nicht wiedererkenne. Deine Worte zeigen mit erschreckender Deutlichkeit, welch verheerenden Einfluß das Geld auf dich ausgeübt hat. Wer dich von früher her kennt und heute mit dir redet, muß stutzig werden. Wundere dich also nicht, wenn ich dir plötzlich Dinge zutraue, die ich vor einem halben Jahr noch für unmöglich gehalten hätte.«
»Und das alles nur, weil ich ehrgeizig bin und weiterkommen will?« empörte sich Yen-sun.
»Nein!« erwiderte Tie-tie. »Es wäre ungerecht, wenn ich dir das ankreiden wollte. Darum geht es auch nicht. Was ich dir verüble, ist die scheußliche Art, in der du über dein egoistisches Vorgehen sprichst. Wer verschleppte und in Not geratene Menschen über einen Fluß hinwegsetzt und das mit dem Ausruf kommentiert: ›Und alle mußten zahlen! Zahlen, zahlen, zahlen!‹, der darf nicht erstaunt sein, daß man Unrat wittert, wenn man hört, daß dieser Mensch für eine soeben eingestellte Gehilfin ein neues Zimmer anbauen läßt!«
»Soll sie vielleicht mit uns schlafen?« begehrte Yen-sun auf.
Tie-tie wirkte gequält. »Wenn ich nicht wüßte, daß du ganz anders bist, als es jetzt den Anschein hat, würde ich kein weiteres Wort mehr an dich richten. So aber fühle ich mich verpflichtet, dir vor Augen zu führen, wohin du treibst, wenn du dein neues Wesen nicht schnellstens wieder abstreifst. Von mir aus magst du der reichste Mann der Erde werden; ich flehe dich jedoch an, der zu bleiben, der du warst, als wir uns kennenlernten: ein Mann, der für seine Familie und nicht für einen Klumpen Gold lebt! Du bist sonst eines Tages ebenso arm wie jener Chinese, der diese Pagode errichten ließ. Ein Vermögen zu besitzen ist sicherlich nicht unangenehm. Wer aber den Reichtum anbetet, verliert den klaren Blick und die Fähigkeit, gütig zu sein.«
»Und wer gütig ist, wird niemals reich werden«, warf Yen-sun abfällig ein. »Aber irgendwo hast du schon recht. Ich bin nicht glücklich und habe mich in den letzten Wochen oft gefragt, was eigentlich mit mir los ist. Nicht, daß ich unzufrieden wäre. Im Gegenteil, das Geldverdienen macht mir verdammt viel Spaß. Nur das Drum und Dran ist manchmal ziemlich aufregend. Dazu die Angst, daß man alles wieder verlieren könnte. Und dann der dauernde Ärger mit Sim…«
»Weshalb hast du Ärger mit
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