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Das weiße Krokodil

Das weiße Krokodil

Titel: Das weiße Krokodil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. C. Bergius
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Erstmals lag das Treppengeländer nicht zwischen ihnen. Tie-tie war so erschrocken darüber, daß er sich nicht bewegen konnte. Wie gelähmt starrte er auf die furchterregende Schnauze des Raubtieres, das angespannt zur Pagode hinaufschaute, bis es ihn plötzlich entdeckte und zusammenfahrend sein zähnestarrendes Maul aufriß.
    »Nicht!« schrie Tie-tie, der schon das Schlimmste befürchtete.
    Das Krokodil zuckte förmlich zusammen.
    Sein Reagieren ließ Tie-tie neue Hoffnung schöpfen. Aber er zitterte am ganzen Leib, und es half ihm wenig, daß offensichtlich nicht nur er, sondern auch das Krokodil aus dem Gleichgewicht gebracht war. Es ergriff weder die Flucht noch setzte es zum Angriff an, und es schien keinem Zweifel zu unterliegen, daß es ebenfalls vor Furcht nicht wußte, was es tun sollte.
    Die Situation war grotesk. Beide hatten Angst voreinander, beiden klopfte das Herz in der Kehle, und beide starrten sich wie hypnotisiert an, bis es dem greisen Tie-tie gelang, sich aus seiner Verkrampfung zu lösen. Er rührte sich jedoch nicht vom Fleck, da er wußte, daß ein weiteres Erschrecken des weißen Krokodils den sicheren Tod für ihn bedeutete. Er tat vielmehr das, was er in den vergangenen Monaten oftmals mit Erfolg getan hatte: er redete und erzählte, was ihm gerade in den Sinn kam.
    »Ich weiß, daß ich dich erschreckt habe«, keuchte er, nach Luft ringend. »Aber das war nicht meine Absicht. Ich hatte mich hierhergesetzt, um über mancherlei nachzudenken. Über gute und schlechte Nachrichten. Der Krieg ist zu Ende gegangen. Om mani padme hum! Aber schon wieder gebären Gedankenlosigkeiten Kummer und Elend.«
    Das weiße Krokodil schnaufte und preßte den Kopf auf die Erde.
    Tie-tie überlegte, ob er es wagen dürfe, einen Rückzug einzuleiten. Er fand jedoch nicht den Mut dazu und redete weiter. »Du schaust mich an, als könntest du keiner Fliege etwas zuleide tun, ich aber habe schreckliche Angst vor dir. Ich wollte, ich wäre bereits hinter dem Treppengeländer. Spring doch ins Wasser.«
    Das weiße Krokodil glotzte ihn unverwandt an.
    Tie-tie seufzte. »Nun gut, dann werde ich dir eben eine Geschichte erzählen, eine Geschichte…« Er stockte, da er kaum noch atmen konnte. Angstschweiß stand ihm auf der Stirn. Seine Nerven vibrierten. Er spürte, daß er nahe daran war, die Besinnung zu verlieren.
    Nur das nicht, beschwor er sich. Es würde das Ende bedeuten. Aber so geht es auch nicht weiter. Ich halte es einfach nicht mehr aus. Ich muß etwas tun, muß mich erheben, muß…
    »Jetzt erhebe ich mich ganz langsam«, sagte er mit erstickter Stimme. »Und wenn ich die Stelle erreicht habe, an der ich sonst immer stehe, dann erzähle ich dir eine Geschichte, die ich mir vor Jahren einmal ausgedacht habe.«
    Noch während er dieses sagte, erhob er sich und trat mit zitternden Knien auf die hinter ihm liegende Stufe. Zentimeterweise bewegte er sich zurück, ohne dabei das Krokodil, das seine Bewegungen aufmerksam verfolgte, aus den Augen zu lassen. Die Zeit schien stillzustehen. Sekunden wurden zu Minuten, Minuten zur Ewigkeit. Tie-tie wußte zeitweilig nicht mehr, was er tat und redete; er sah nur das weiße Krokodil und das schützende Treppengeländer, und er war der Ohnmacht nahe, als er es endlich erreichte und wie ein Ertrinkender umklammerte. Die Beine versagten ihm den Dienst. Er ließ sich willenlos niedersinken. Seine Lippen bebten. Tränen stiegen ihm in die Augen. Und dann schüttelte ihn plötzlich ein lautloses Lachen, dessen er sich trotz aller Bemühungen nicht erwehren konnte.
    Wohl eine Viertelstunde dauerte es, bis seine überreizten Nerven sich so weit beruhigt hatten, daß er fähig war, sich zu erheben und zum weißen Krokodil hinabzublicken, das nur wenige Meter von ihm entfernt unterhalb des Geländers lag und erwartungsvoll zu ihm emporschaute. Sprechen aber konnte er nicht; seine Zunge war schwer wie Blei.
    Doch dann beglückte ihn der Anblick des nun friedlich daliegenden Tieres so sehr, daß er am liebsten gejubelt hätte. Er fühlte sich mit einem Male leicht wie eine Feder.
    Seine Zunge löste sich, und er konnte wieder reden, als sei nichts geschehen.
    »Wer von uns hat nun die größere Angst gehabt?« rief er erlöst. »Wahrscheinlich ich. Und du hast nicht einmal den Versuch gemacht, mich zu überfallen, obwohl es ein leichtes für dich gewesen wäre.«
    Das weiße Krokodil sperrte wie gähnend sein riesiges Maul auf.
    Tie-tie hob gebieterisch die Hand. »O nein,

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