Das weiße Mädchen
Heller ernsthaft. »Ich vermeide das Wort ›Geist‹, denn Geist ist nichts anderes als die wahre Essenz allen Seins. Ruhelose Seelen dagegen haben sich im Leben allzu sehr an die Dinge der materiellen Welt gebunden und sind nicht imstande, sie loszulassen, nicht einmal im Tod.«
»Also gut: Warum sind Sie so sicher, dass es eine ruhelose Seele war?«
»Was sollte es sonst gewesen sein?«, fragte Hedwig Heller beinahe empört. »Als ich anhielt, verschwand die Erscheinung im Wald: Sie glitt einfach rückwärts zwischen den Bäumen davon. Ein lebender Mensch wäre doch nicht geflohen, sondern hätte sich mir genähert und auf meine Rufe geantwortet.«
»Sie haben gerufen?«
»Ja, so etwas wie: ›Kann ich Ihnen helfen?‹ Aber die Erscheinung blieb stumm und verschwand.«
»Sie sind ihr nicht gefolgt?«
»Um Himmels willen, nein – gerade für spirituelle Menschen sind die Wesen des Zwischenreichs eine Gefahr, denn sie spüren unseren Zugang zu einer höheren Welt und übertragen jene Ambivalenz auf uns, die sie dem Licht gegenüber empfinden; eine Mischung aus Neid, Verlangen und Zorn. Oft sind sie den Lebenden nicht wohlgesinnt. Als ich die Erscheinung zum zweiten Mal sah, habe ich daher nicht mehr angehalten, und auch nicht beim dritten Mal.«
»Ich habe gehört, dass auch andere Einwohner von Verchow die Erscheinung gesehen haben.«
»Aber gewiss, viele sogar. Mit Sicherheit weiß ich, dass Herr Gätner sie gesehen hat, ebenso Herr Timm, der vor einigen Jahren weggezogen ist, und eine Angestellte des Dorfkrugs, deren Name mir gerade nicht einfällt. Die Erscheinung zeigt sich stets nur abends gegen einundzwanzigUhr. Ich habe gehört, dass das die Tageszeit war, zu der das Mädchen verschwand. Auch dieses Verhalten ist typisch für ruhelose Seelen. Sie gehen immer am selben Ort und zur gleichen Zeit um.«
»Und warum gerade dort? Warum nicht an der Bushaltestelle, wo Christine zum letzten Mal gesehen wurde?«
Frau Heller zuckte die Achseln. »Das kann ich nicht sagen. Vielleicht ging sie von dort zu Fuß nach Hause, und an jener Stelle, wo sie seitdem erscheint, ist ihr wahrscheinlich etwas Schreckliches zugestoßen.«
»Eine Frage noch …« Lea wand sich unbehaglich, denn sie fürchtete, ihre Gastgeberin zu kränken. »Sehen Sie auch sonst gelegentlich … ruhelose Seelen?«
Frau Heller seufzte. »Glücklicherweise nicht. Gewiss gibt es viele von ihnen in unserer Zeit, die von so viel Unglück und Verblendung heimgesucht wird. Doch nicht alle Ruhelosen erscheinen in sichtbarer Gestalt, und außer diesem Mädchen ist mir bislang kein anderer begegnet.«
Aha
, dachte Lea. Sie hatte bereits befürchtet, dass Frau Heller Geister zu sehen glaubte, wo immer sie sich aufhielt, was nicht eben zur Glaubwürdigkeit ihrer Geschichte beigetragen hätte.
»Nun denn«, sagte sie und erhob sich, »ich danke Ihnen. Sie haben mir sehr weitergeholfen.«
»Wollen Sie denn Ihren Tee nicht austrinken?«, fragte die kleine Frau erstaunt.
»Vielen Dank«, wehrte Lea ab, »aber meine Zeit ist knapp.«
Frau Heller schüttelte mitleidig den Kopf. »Diese Stadtmenschen, immer haben sie es eilig. Und Sie möchten wirklich keinen Engel?« Sie wies auf die zahlreichen Figuren auf den Regalen.
»Ach nein, vielen Dank«, wiederholte Lea. Und genauin diesem Moment kam ihr eine passende Begründung in den Sinn. »In meinem Leben gibt es bereits einen Engel.«
Frau Heller lächelte wissend. »Ich verstehe – ich habe es bereits mit dem inneren Auge gesehen: Sie haben eine kleine Tochter, nicht wahr? Das ist auch der Grund, warum sie sich für das Schicksal dieses verschwundenen Mädchens interessieren.«
Lea erwog kurz, sie zu korrigieren, entschied sich jedoch dagegen und nickte. Menschen, die sich für seherisch begabt hielten, ließ man am besten in ihrem Glauben. Zudem lag ihr daran, das Gespräch zu beenden und sich zu verabschieden.
Nachdem sie das Haus verlassen hatte, entschied Lea, dass es an der Zeit für eine Sammlung und Ordnung ihrer Informationen war. Um in Ruhe nachdenken zu können, gönnte sie sich einen längeren Spaziergang. Sie ging einen Wanderweg entlang, der von der Hauptstraße abzweigte und einen Halbkreis um das Dorf beschrieb. Die Schönheit der Umgebung mit ihren uralten Bäumen, den dezent restaurierten Fachwerkhäusern und den weitläufigen Gärten, die in Wiesen übergingen, klärte Leas Geist. Hier und dort blieb sie stehen oder setzte sich auf eine Bank, verlor sich in der
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