Das weiße Mädchen
Klingeln ihres Handys bereits, als sie die Wohnungstür aufschloss. Sicher war es David, der wissen wollte, warum sie sich tags zuvor nicht noch einmal gemeldet hatte. Rasch ließ Lea die Einkaufstüte fallen und griff nach dem Telefon, das auf dem Wohnzimmertisch lag.
»David?«
»Hallo, ich bin’s – Jörg.«
Lea brauchte einen Moment, bis sie die Stimme ihres Kollegen aus der Redaktion erkannte. »Oh! Nett, von dir zu hören.«
»Wie geht es dir? Hast du einen schönen Urlaub?«
»Naja …« Lea lachte verlegen. »Du weißt ja, ich gehenebenbei dieser Geisterlegende nach. Es ist interessanter, als ich dachte.«
»Deswegen rufe ich auch an. Ich kümmere mich ja um deinen Posteingang, und heute Morgen ist eine weitere E-Mail eingegangen – vom selben anonymen Absender wie neulich.«
»Tatsächlich?«, staunte Lea.
»Was er diesmal schreibt, ist allerdings noch verrückter«, meinte Jörg. »Ich jedenfalls werde nicht schlau daraus. Wenn du möchtest, schicke ich die Mail an deine private Adresse weiter.«
»Ja, tu das bitte!«, bat Lea, zog ihre Reisetasche zu sich heran und kramte nach ihrem Laptop. » L-Petersen @hotmail.de.«
»Schon erledigt«, sagte Jörg. »Vielleicht kannst du mehr damit anfangen als ich.«
»Danke. Ach, und wenn du schon dabei bist …«
»Ja?«
»Du sagtest einmal, du kennst jemanden, der in Hamburg an einem Onlineprojekt mitarbeitet – digitale Archivierung sämtlicher lokaler Tageszeitungen in Norddeutschland.«
»So ist es. Eines Tages wird das wahrscheinlich eines der größten Zeitungsarchive sein.«
»Ist es möglich, dieses Archivnach Namen zu durchsuchen? Die ganze Geschichte dreht sich nämlich um ein verschwundenes Mädchen, und ich würde gern überprüfen, was damals in der Presse stand.«
»Was genau brauchst du?«, fragte Jörg, wie gewöhnlich zu jeder Hilfe bereit.
»Lokalzeitungen vom Frühjahr 1986. Wichtig wäre alles, was vom Verschwinden einer Christine Herforth aus Verchow handelt.«
»Ich weiß nicht, ob das Archivbis in die achtziger Jahrezurückreicht, aber ich werde nachfragen«, versprach Jörg. »Allerdings habe ich frühestens morgen Gelegenheit dazu.«
»Kein Problem.«
»Wenn ich tatsächlich eine Zeitungsmeldung finde, werde ich sie dir per Mail zuschicken.«
»Wirklich lieb von dir«, sagte Lea dankbar. »Dafür hast du etwas gut.«
»Ist doch selbstverständlich. Mach dir eine schöne Zeit, und arbeite nicht zu viel! Schließlich bist du im Urlaub.«
»Dir auch eine schöne Zeit!«, beendete Lea das Gespräch.
Sie schloss das Handy, klappte ihren Laptop auf und startete das Internet. Tatsächlich fand sie in ihrem Postfach eine weitere E-Mail von jener ominösen Adresse vor, die außer dem Provider keinerlei Hinweis auf die Identität des Absenders erkennen ließ. Lea konnte nicht umhin, ihrem Kollegen zuzustimmen – die Botschaft war noch kryptischer als beim ersten Mal.
Tom Thanatar
Verhanden, Niederlande
Dichotomia I,
17
,
4
Dichotomia III,
36
Spectra
12, 1
Das war alles. Kopfschüttelnd starrte Lea auf die unverständlichen Zeilen. Wer auch immer ihr anonymer Informant sein mochte, er machte es ihr nicht leicht.
Das erneute Summen des Handys riss sie aus ihren Gedanken – und diesmal war es tatsächlich David.
»Hi, Mum. Was machst du?«
Lea freute sich so über seinen Anruf, dass sie die Frage zunächst überhörte und ihn stattdessen nach seinen eigenenErlebnissen ausfragte. Wie sich herausstellte, hatte die Klasse eine längere Wanderung quer durch den Taunus hinter sich und war eben erst ins Schullandheim zurückgekehrt. David war bester Laune, hatte aber wenig zu erzählen. Weder das Wandern noch die Landschaft schienen besonderen Eindruck auf ihn gemacht zu haben.
»Und was machst du?«, fragte er zum zweiten Mal. »Ich habe dieses Verchow mal bei Google-Maps gesucht. Das ist ja finsterstes Hinterland! Wieso bist du denn ausgerechnet dorthin gefahren?«
Lea beschloss, ihn einzuweihen. Gewöhnlich erzählte sie ihrem Sohn kaum etwas von ihrer Arbeit. Als sie jedoch mit den anonymen E-Mails begann, war Davids Interesse augenblicklich geweckt. Seine Fragen ermutigten sie, alles wiederzugeben, was seit ihrer Ankunft in Verchow geschehen war – mit Ausnahme des Abendessens in Gesellschaft von Kai Zirner.
»Das ist ja der reinste Krimi!«, sagte David ehrlich beeindruckt. »Und ich dachte, du schreibst bloß über Stadtfeste und Bürgerinitiativen.«
»Na ja, ob das jemals in der Zeitung
Weitere Kostenlose Bücher