Das weiße Mädchen
wissenden Ausdruck in die Gegend, als ob sie jeden durchschauen könnte. Nie macht sie mit, wenn die anderen herumalbern. Immer hält sie sich abseits. Zuerst dachte ich, sie ist ein bisschen eingebildet, aber inzwischen weiß ich es besser. Ich glaube, sie sieht Dinge, die andere Leute nicht sehen. Irgendwie erscheint es mir immer, als hätte sie ein Geheimnis.«
Sieh an
, dachte Lea.
Da haben sich zwei Sensible gefunden – oder zumindest wäre es David zu wünschen, wenn sie sich fänden.
»Ich überlasse es dir«, sagte sie laut. »Du musst sie nicht fragen. Es ist mir schon unangenehm, dich überhaupt in meine Recherchen einzuspannen. Eigentlich wollte ich dir gar nichts von der Sache erzählen.«
»Ich überleg’s mir«, versprach David. »Vielleicht hast du ja recht, und es ist tatsächlich eine Gelegenheit, mit ihr ins Gespräch zu kommen – auch wenn ich nicht gerade wie jemand aussehe, der sich für Tom Thanatar interessiert.«
»Wieso? Was hat das mit dem Aussehen zu tun?«
»Ich glaube, die meisten seiner Fans sind ein bisschen wie Maja … Gothics, falls dir das etwas sagt.«
»Allerdings.« Lea dachte an die Beschreibung, die ihr der Lehrer Winkelmann von Christine Herforth gegeben hatte. »Schwarze Klamotten, Silberkreuze und weißes Make-up?«
»Nicht ganz so drastisch«, meinte David, »aber es geht in diese Richtung.«
Das ist ja hochinteressant
, fand Lea. Nie hätte sie erwartet , dass ihr Sohn – zurückhaltend und eher unauffällig – sich ausgerechnet zu einem solchen Paradiesvogel hingezogen fühlte.
Wir haben etwas gemeinsam, David,
dachte sie verblüfft.
Uns beide interessiert ein schwarz gekleidetes sechzehnjähriges Mädchen, das von einem Geheimnis umgeben ist.
Nachdem sie das Gespräch mit David beendet hatte, gönnte Lea sich ein spätes, dafür umso reichlicheres Frühstück. Zu ihrem Erstaunen konnte sie durch das Terrassenfenster beobachten, dass Rudolf Zirner im Garten stand und seine Rosen beschnitt. Offenbar ging es ihm besser. Schließlich hatte Kai noch am Vorabend gesagt, er könne nur mit Schwierigkeiten Treppen steigen.
Gegen elf Uhr verließ Lea das Haus. Zirner, der sie bemerkte, als sie die Gartenpforte öffnete, grüßte von weitem mit einem freundlichen Kopfnicken. Als Lea seinen Gruß erwiderte, empfand sie fast etwas wie Schuldgefühl. Ob der Mann wusste, dass sie den gestrigen Abend zusammen mit seinem Neffen verbracht hatte?
Wenn er es weiß, scheint es ihm nichts auszumachen
, stellte sie fest und bemühte sich, nicht an Kai, sondern an ihre Pläne für den heutigen Tag zu denken.
Lea hatte sich vorgenommen, ihre Befragung der Einwohnervon Verchow auszudehnen. Seit sie am Morgen durch Frau Gätner erfahren hatte, dass offenbar längst das halbe Dorf über den Grund ihres Besuchs Bescheid wusste, empfand sie keine Scheu mehr dabei, an fremden Haustüren zu klingeln.
»Ich bin Journalistin und interessiere mich für das sogenannte weiße Mädchen«, eröffnete sie jedes Mal das Gespräch.
Die Reaktionen waren höchst unterschiedlich. Leas erster Kandidat war ein älterer Mann, der sie misstrauisch von Kopf bis Fuß anstarrte, sich ihr Anliegen zweimal wiederholen ließ und ihren Presseausweis verlangte.
»Ich weiß von nichts«, sagte er schließlich unwirsch. »Fragen Sie woanders!«
Als Nächstes geriet Lea an eine polnische Putzfrau, die ihr radebrechend erklärte, dass die Herrschaften berufstätig und nicht vor neunzehn Uhr zu Hause seien. Im dritten Haus traf Lea einen sechsjährigen Jungen an, der schüchtern die Tür öffnete und beteuerte, er habe Fieber – offenbar hielt er sie für eine Lehrerin, der er erklären musste, warum er um diese Zeit nicht in der Schule war.
Schließlich näherte sich Lea dem Gätnerschen Hof, der aus einem gedrungenen Wohnhaus und mehreren Ställen bestand. Den Geruch von Hühnern und Schweinen nahm Lea bereits aus einiger Entfernung wahr. Auf einem eingezäunten Wiesenstück grasten zwei schmächtige Islandpferde, am Zaun prangte ein handgeschriebenes Schild: 1 x REITEN 10 EURO, KINDER 5 EURO. Der Zustand der Gebäude, von denen der Putz blätterte, ließ die Vermutung zu, dass der Bauer auf diesen kleinen Zuverdienst angewiesen war.
Als Lea die offene Auffahrt hinaufging, trat der Bauer soeben aus dem Schweinestall, einen leeren Bottich in den Händen. Er war etwas älter als seine Ehefrau, ungefährsechzig, und verbreitete einen durchdringenden Geruch nach Schweiß und Alkohol. Lea
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