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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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war, einmal für vierundzwanzig Stunden in Ruhe gelassen zu werden. Vermutlich vergnügte er sich mit seinen Klassenkameraden auf irgendeiner Zimmerparty und hatte ihren Anruf nicht vermisst. Dennoch konnte sich Lea nicht zurückhalten, ihm zumindest eine SMS zu schicken – nur wenige Worte:
»Bin gut angekommen. Bleibe eine Woche. Hoffe, du amüsierst dich. Gruß, Mum.«
    Lea packte ihre Sachen aus, weihte die Dusche ein undlegte sich in das Doppelbett, das zwar viel zu groß, doch wunderbar bequem war. Eine Zeitlang lauschte sie in die Nacht hinaus und stellte erstaunt fest, wie still es draußen war: Aus ihrer Stadtwohnung war sie stets irgendeine Geräuschkulisse gewohnt, selbst wenn sie nur im fernen Rauschen des Verkehrs auf der nahen Umgehungsstraße bestand. Hier jedoch, in diesem Dreihundert-Seelen-Dorf fernab aller größeren Verkehrsverbindungen, war die Stille vollkommen und fast ein wenig unheimlich. Nicht einmal das kaum merkliche Summen irgendeines elektrischen Gerätes lag in der Luft, wie sie es von Klimaanlagen, Radioweckern oder einem Fernseher im Stand-by-Modus gewohnt war.
    Über ihr, im Obergeschoss des Hauses, knarrte eine Diele. Vermutlich war es Kai, der sich zu Bett schlich.
    Warum habe ich ihn nicht hereingebeten?,
fragte sich Lea plötzlich. In der Stille und Einsamkeit des Schlafzimmers erschien ihr der Gedanke nicht mehr so absurd wie vorhin an der Wohnungstür.
    Wer weiß, wo das geendet hätte
, antwortete eine zweite Stimme in ihrem Kopf.
    Und wenn schon!
, gab Lea forsch zurück.
    Du kennst ihn doch gar nicht!,
mahnte die Gegenstimme .
Erst seit heute Morgen.
    Na und? Vielleicht ist gerade das ewige Vernünftig-Sein daran schuld, dass ich seit zehn Jahren Single bin. Eigentlich wird es höchste Zeit, dass ich mal ein wenig Spaß habe.
    Einige Zeit noch zog sich das innere Streitgespräch hin, dann tat die Stille ihre Wirkung, und Lea schlief ein – weit früher, als es sonst ihre Gewohnheit war.

Montag
    Lea träumte.
    Sie stand vor einem kleinen Haus mit reetgedecktem Dach, Hedwig Hellers Haus nicht unähnlich. Allerdings befand es sich nicht – wie in der Realität – im Dorfkern von Verchow, sondern mitten in einem düsteren Wald, fast wie ein Hexenhaus im Märchen. Die Haustür war angelehnt. Lea öffnete sie, trat in einen mit Holzdielen ausgelegten Flur und näherte sich dem Durchgang zu einem Wohnraum. An einem großen Eichentisch saß eine Frau, den Kopf in die Hände gestützt, vor sich eine dampfende Teetasse. Lea blieb stehen. Ihr Herz klopfte heftig, als die Frau sehr langsam das Gesicht hob und zu ihr aufblickte.
    Es war Iris – ihre Freundin aus alter Zeit, unverändert und keinen Tag älter als siebzehn.
    Unvermittelt fühlte Lea heiße Tränen in sich aufsteigen.
    Endlich habe ich dich wiedergefunden
, sagte sie, während sie an den Tisch trat.
    Iris blickte sie an, scheinbar teilnahmslos und ohne das leiseste Lächeln.
    Setz dich, Lea
, flüsterte sie.
Komm, trink einen Tee mit mir.
    Lea setzte sich auf einen altmodischen geschnitztenStuhl ihr gegenüber. Iris schob langsam die Teetasse zu ihr herüber.
    Trink.
    Auch der Tee roch wie jener, den Frau Heller aufgetischt hatte – seltsam, fremdartig. Lea trank, ohne die Freundin aus den Augen zu lassen.
    Was ist mit dir geschehen
?
, fragte sie.
Wo bist du all die Jahre gewesen?
    Ich weiß nicht
, gab Iris immer noch flüsternd zurück.
Ich kann mich nicht erinnern.
    Ich habe so lange nach dir gesucht
, sagte Lea und streckte die rechte Hand aus, um die linke ihrer Freundin zu ergreifen, die auf dem Tisch ruhte. Iris jedoch zog die Hand augenblicklich zurück.
    Du kannst mich nicht berühren, Lea,
flüsterte sie und wandte sich ab.
Es ist unmöglich.
    Verwirrt suchte Lea ihren Blick.
Warum?
    Iris verharrte einen Moment, zur Seite gewandt, das Gesicht von ihrem schwer herabhängenden Haar verdeckt. Dann wandte sie sich Lea erneut zu – doch das Gesicht, das aus dem Schatten der Haare auftauchte, war plötzlich grauenhaft verändert: alt, faltig, mit eingefallenen Wangen und dunklen Ringen unter den glanzlosen Augen.
    Weil ich tot bin.
    Auch ihre Stimme hatte sich verwandelt: Plötzlich klang sie hohl und dunkel wie ein Widerhall aus großer Tiefe.
    Ich bin tot, Lea.
    Ihre Lippen, verblasst und von Falten zerschnitten, bebten bei diesen Worten. Dann öffneten sie sich weit und immer weiter, als fiele der Unterkiefer ins Bodenlose, und offenbarten eine pechschwarze Höhle ohne jegliche Konturen – keine Zunge,

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