Das weiße Mädchen
gut«, meinte er. »Mei nem Onkel geht es besser, als ich erwartet habe. Nur das Treppensteigen macht ihm Probleme. Er hatte kürzlich einen leichten Herzinfarkt, aber es scheint, dass er sich zusehends erholt.«
»Kann sich denn sonst niemand um ihn kümmern?«, fragte Lea. »Hat er keine anderen Angehörigen?«
Kai schüttelte den Kopf. »Seine Frau ist früh gestorben. Er lebt seit zwanzig Jahren allein.«
»Oh«, sagte Lea betroffen. »Ich hatte mich schon über die Größe des Hauses gewundert …«
»Als er es damals kaufte, hoffte er, es würde bald von einer großen Familie bevölkert werden. Leider ging sein Traum nicht in Erfüllung. Das Schicksal wollte es anders.«
»Sicher war es auch schwer für Sie, als Ihre Tante starb.«
»Ich habe sie nie kennengelernt.«
»Nanu – wieso das?«
»Wir … hatten damals keinen Kontakt«, erklärte Kai verlegen. »Mein Vater war Rudis älterer Bruder, aber die beiden hatten sich zerstritten und sprachen nicht miteinander. Erst mit zwölf Jahren erfuhr ich, dass ich überhaupt einen Onkel habe. Im Gegensatz zu meinem Vater komme ich bestens mit Rudi zurecht.«
»Verstehe.« Lea begriff, dass das Thema ihm unangenehm war, und schlug angesichts der vorgerückten Zeit vor, bald aufzubrechen. Kai stimmte erleichtert zu und bestand darauf, für beide zu zahlen. Lea widersprach nicht. Emanzipation hin oder her, sie wusste sehr genau, dass seine Gehaltsklasse weit über der ihren lag und es ihm nichts ausmachte.
Als sie gegen zehn Uhr nach Verchow zurückfuhren, blickte Lea aufmerksam in den Wald hinaus. Ihre Gedanken, durch Kais Gesellschaft bisher nachhaltig zerstreut, kehrten zu Christine Herforth zurück. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie sich auf derselben Straße befanden, die angeblich von Christines Geist heimgesucht wurde. Diesmal war sich Lea ziemlich sicher, am rechten Straßenrand die Auffahrt ausgemacht zu haben, die zum ehemaligen Anwesen der Herforths führte. Irgendwo zwischen diesem Punkt und dem Ortseingang musste sich der umgeknickte Leitpfosten befinden, der laut Hedwig Heller den Erscheinungsort des Geistes markierte.
»Sie sind so still«, bemerkte Kai, den Blick auf die Straße gerichtet. »Woran denken Sie?«
Als Lea nicht antwortete, sondern weiterhin aus dem Seitenfenster spähte, zog er von selbst den treffenden Schluss.
»Diese Geistergeschichte?«, fragte er.
»Hmm?« Lea, aus ihren Gedanken gerissen, wandte sich fast schuldbewusst zu ihm um.
»Um ehrlich zu sein: Ich verstehe nicht ganz, warum Sie Ihre Zeit damit vergeuden«, meinte Kai. »Sie haben ja gehört, dass selbst mein Onkel diese Gerüchte für Unfug hält. Ich selbst bin schon sechsmal in Verchow gewesen – bei Tag wie bei Nacht –, habe immer diese Straße benutzt und noch nie irgendetwas Ungewöhnliches gesehen.«
»Wahrscheinlich haben Sie recht«, stimmte Lea zu. Sie hatte wenig Lust, Kai zu offenbaren, was sie am Nachmittag von den Einwohnern des Ortes erfahren hatte, und entschloss sich, das Thema nicht zu vertiefen.
Zurück in Verchow betraten sie gemeinsam das Haus und verabschiedeten sich im Flur, während Lea ihre Wohnungstür aufschloss.
»Das war ein schöner Abend«, sagte Kai, offenbar in dem Bedürfnis, die Zeit noch ein wenig zu dehnen.
»Ja, finde ich auch«, antwortete Lea schlicht und trat über die Schwelle. »Vielen Dank für Ihre Einladung.«
Kai wirkte verlegen, als könnte er sich nicht entschließen, sich endgültig zu verabschieden. Lea spürte deutlich, dass er hoffte, noch auf einen Moment hereingebeten zu werden. Die Erkenntnis war nicht unangenehm. Im Gegenteil, sein offenkundiges Interesse rührte sie. Dennoch lag ihr im Augenblick nichts ferner, als seinem Wunsch zu entsprechen.
»Gute Nacht!«, sagte sie, wobei sie sich dabei ertappte, ihrer Stimme unwillkürlich einen sanften, beinahe tröstenden Klang zu verleihen.
»Ihnen auch«, antwortete er.
Lea schloss die Tür, lauschte und hörte schließlich, wie er die Treppe hinaufstieg – behutsam, vermutlich um seinen Onkel nicht zu wecken.
Fast betroffen stellte sie fest, dass sie Kai ehrlich mochte. Es war lange her, dass sie einen so angenehmen Abend mit einem Mann verbracht hatte, ohne sich entweder gelangweilt oder bedrängt zu fühlen. Es war ihm gelungen, ihre Aufmerksamkeit zu binden – so sehr, dass sie nicht einmal daran gedacht hatte, David anzurufen. Sie empfand ein vages Schuldgefühl, dann aber sagte sie sich, dass ihr Sohn wahrscheinlich erleichtert
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