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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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keine Zähne, nichts als gähnende Schwärze. Es war, als blickte Lea in einen Abgrund.Grauen erfasste sie, und noch im Traum versuchte sie zu schreien, stellte jedoch fest, dass sie keinen Laut hervorbringen konnte.
     
    Lea erwachte mit einem verzweifelten Stöhnen und brauchte mehrere Sekunden, um zu begreifen, wo sie sich befand. Der Albdruck lastete auf ihr wie ein zentnerschweres Gewicht. Angestrengt bemühte sie sich, ruhiger zu atmen, und legte eine Hand auf ihr wild klopfendes Herz. Erst nach einigen Minuten glitt ihr Blick zum Fenster hinüber. Draußen graute bereits der Morgen. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte sechs Uhr dreißig.
    Iris   … In den vergangenen Jahren war es immer wieder vorgekommen, dass Lea von ihr geträumt hatte. Niemals jedoch war sie von derart erschreckenden Bildern heimgesucht worden, selbst in ihrer Jugend nicht, als der Verlust der Freundin noch frisch und jeden Tag gegenwärtig gewesen war.
    Lea glaubte nicht daran, dass Menschen in der Lage waren, anderen Menschen im Traum Botschaften zu senden .
Alles, was im Traum geschieht, entspringt dem eigenen Denken
, erinnerte sie sich an eine Sentenz, die sie einmal gelesen hatte.
Unbewusst bin ich überzeugt, dass Iris tot ist – deshalb hat mein Gehirn ihr Bild erschaffen und ihr diese Worte in den Mund gelegt.
    Die Erklärung war beruhigend, konnte das Grauen jedoch nicht vollständig vertreiben. Lea ahnte, warum dem so war: Sie hatte sich darauf eingelassen, erneut die Spuren eines verschwundenen Mädchens zu verfolgen. Es rührte traumatische Erinnerungen auf, zerrte an ihrer Seele. Umso fester jedoch war sie entschlossen, das Rätsel um Christine Herforth zu lösen. Womöglich würde das die Erinnerungen zum Verblassen, die Stimmen zum Schweigen bringen.
    Lea stand auf, ging unter die Dusche und schließlich auf die Terrasse, um sich in einen Plastikstuhl zu setzen und den Sonnenaufgang zu betrachten. Das Frühstück musste warten, bis der örtliche Supermarkt öffnete. Wenigstens hatte sie in ihrer Handtasche noch eine kleine Tüte mit Instantkaffee gefunden. Sie bereitete sich eine Tasse zu. Die Zeit strich dahin. Die Sonne stieg höher und tauchte den rückwärtigen Garten der Zirners in herrliches Licht. Ebenso wie der Vorgarten war er voller Rosenbüsche, deren rote, weiße und gelbe Blüten wie verstreute Edelsteine schimmerten.
    Gegen halb neun verließ Lea das Haus und machte sich auf den Weg zu dem kleinen Supermarkt an der Hauptstraße, wo sie noch zehn Minuten vor der Tür wartete, bis eine ältere Frau aufschloss und sie hereinließ. Lea war die einzige Kundin und nutzte die Leere in dem kleinen Laden, um gemächlich umherzuschlendern und planvoll ihren Korb zu füllen.
    »Sie wohnen bei den Zirners, nicht wahr?«, fragte die Frau, die an der Kasse Platz genommen hatte.
    Lea nickte erstaunt. Sie war noch keine zwei Tage hier und hatte nur mit wenigen Menschen gesprochen. Dennoch schien offenbar schon das gesamte Dorf zu wissen, wer sie war. Unauffällig spähte sie auf das Namensschildchen, das die Frau auf ihrer Bluse trug. GÄTNER stand darauf, und Lea folgerte, dass die Kassiererin die Ehefrau des Landwirts war, den Hedwig Heller erwähnt hatte.
    »Und Sie interessieren sich für unseren Geist?«, fragte Frau Gätner, während sie mit routiniertem Griff die Waren scannte.
    »Woher wissen Sie denn das?«, entgegnete Lea.
    »Eine Nachbarin hat gehört, wie Sie sich mit Herrn Winkelmann unterhalten haben«, antwortete Frau Gätner. Es schien ihr nicht im mindesten peinlich zu sein. ImGegenteil: Ihre Stimme klang beinahe vorwurfsvoll, als wäre es eine Unverfrorenheit, in einem Verchower Garten laut zu sprechen.
    Mein Gott, ich muss vorsichtiger sein
, dachte Lea.
Bei der Geschwindigkeit des hiesigen Tratsches weiß bis zum Mittag vermutlich jeder im Dorf, welche Kaffeemarke ich gekauft habe und welchen Eyeliner ich benutze.
    »Glauben Sie bloß nicht alles, was die Leute so reden!«, sagte Frau Gätner verächtlich. »Ich jedenfalls habe an der Straße noch nie einen Geist gesehen. Und den Quatsch, den mein Mann erzählt, brauchen Sie sich gar nicht erst anzuhören.«
    »Verstehe«, brummte Lea unbestimmt und zückte ihr Portemonnaie, um zu signalisieren, dass sie dieses einseitige Gespräch nicht fortsetzen wollte.
    »Vierzehn achtundzwanzig«, quittierte Frau Gätner die Zurückweisung frostig.
    Lea bezahlte, raffte ihren Einkauf so schnell wie möglich zusammen und verließ den Laden.
     
    Sie hörte das

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