Das weiße Mädchen
landet, ist eine andere Frage«, meinte Lea. »Aber ich finde die Geschichte einfach spannend.«
»Das kann man wohl sagen! Hey, stell dir vor, diese Christine ist wirklich ermordet worden, und dein namenloser Informant ist ein geheimer Mitwisser, der das aufdecken will. Hast du schon mal daran gedacht, die Polizei einzuschalten?«
»Ich weiß nicht«, meinte Lea unbehaglich. »Das Mädchen ist vor vierundzwanzig Jahren verschwunden, und der Fall ist längst abgeschlossen. Was habe ich denn schon in der Hand, abgesehen von unverständlichen E-Mails ?«
»Vielleicht lässt der Absender sich ermitteln«, überlegteDavid ernsthaft. »Man müsste die I P-Adresse des Computers herausfinden, der die Mails versendet.«
»Geht das?«, staunte Lea, die nicht erwartet hatte, dass ihr Sohn die Angelegenheit derart ernst nahm.
»Sicher geht das, es ist allerdings schwierig. Ich werde mal Justin fragen, der kennt sich mit solchen Dingen aus.«
»Großartig!«
»Was stand denn in der Mail, die du heute Morgen bekommen hast?«
»Gute Frage«, sagte Lea. »Irgendein seltsamer Code mit einer Adresse in den Niederlanden.« Sie öffnete erneut die Mail. »Das Erste könnte ein Name sein, allerdings ziemlich exotisch: Tom Thanatar, Verhanden, Niederlande.«
Lea hörte, wie David durch die Zähne pfiff.
»Sagtest du
Thanatar? «
»Ja.« Lea stutzte. »Sagt dir der Name etwas?«
»Allerdings. Tom Thanatar ist ein Comiczeichner. Maja ist ein großer Fan von ihm. Sie betet ihn geradezu an. Er hat wohl eine Art Kultstatus bei gewissen Leuten.«
»Das ist ja unglaublich!« Lea konnte ihre Freude über die prompte Lösung des Rätsels kaum verbergen. »Und der Rest? Verhanden, Niederlande?«
»Hast du das mal ins Internet eingegeben?«
»Nein, noch nicht …«
»Warte kurz, Mum. Ich leihe mir mal eben Justins Handy. Er hat einen mobilen Netzzugang.« Für eine halbe Minute hörte Lea undeutliches Stimmengewirr im Hintergrund, dann war David wieder da. »Alles klar. Verhanden heißt der Verlag, der die Bücher von diesem Tom Thanatar herausbringt. Ich habe die Website vor mir, aber es ist alles auf Holländisch.«
»In der Mail folgt dann noch eine Art Code:
DichotomiaI, Dichotomia III
und
Spectra
, immer von Zahlen gefolgt.«
»Kein Problem.« Lea hörte, wie David sich von einer Seite zur nächsten klickte.
» Dichotomia
und
Spectra
sind Buchtitel: So heißen einige der Comics von Thanatar. Die Zahlen könnten auf einzelne Bände und Seiten hinweisen.«
»Du bist genial!«, sagte Lea schmunzelnd.
»Offenbar will dein anonymer Hinweisgeber, dass du dir diese Comics anschaust.«
»Aber warum nur?«, sinnierte Lea. Plötzlich kam ihr eine Idee. »Du sagtest doch, dass Maja ein Fan von diesem Thanatar ist. Glaubst du, dass sie die Comics dabeihat?«
»Schon möglich.« David klang plötzlich unsicher.
»Du könntest nicht zufällig versuchen, sie dir auszuleihen?«
David schwieg einen Moment. Das Stimmengewirr im Hintergrund wurde leiser. Offenbar hatte er sich in irgendeine ruhige Ecke zurückgezogen, vielleicht ins Bad oder auf den Flur.
»Das ist nicht so einfach, Mum«, sagte er schließlich mit veränderter Stimme. »Ich würde dir gerne in der Sache helfen, aber … also, es ist so … Eigentlich kenne ich Maja kaum.«
»Aber du hast doch schon mit ihr gesprochen – oder etwa nicht?«
»Na ja, schon, aber nur so oberflächliches Zeug, und es waren immer andere Leute dabei.«
Lea begriff. Sie wusste, dass David für diese Maja schwärmte, doch offensichtlich war es eine stille Schwärmerei, von der das Mädchen nicht das Geringste ahnte. Eigentlich, sagte sie sich, hätte sie das wissen müssen: David war nicht der Typ, der sich anderen aufdrängte, schon gar nicht, wenn Gefühle im Spiel waren. Der lockereUmgang, den er mit seiner Mutter oder mit männlichen Freunden pflegte, täuschte leicht darüber hinweg, dass er im Grunde schüchtern war.
»Vielleicht«, schlug Lea behutsam vor, »wäre das ja eine Möglichkeit, mit ihr ins Gespräch zu kommen.«
»Indem ich sie bitte, mir Comics auszuleihen?« Davids Stimme klang skeptisch.
»Frauen mögen es, wenn Männer sich für das interessieren, was sie interessiert«, gab Lea schmunzelnd zu bedenken.
»Ach, Mum, so einfach ist das nicht. Maja ist nicht wie andere Mädchen.«
»Wieso?«
»Na ja«, druckste David herum. »Es ist … nicht so leicht, sie anzusprechen. Sie redet nicht viel. Meistens sitzt sie still in einer Ecke und schaut mit einem
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