Das weiße Mädchen
ahnte bereits, dass sie nicht willkommen war, als sie seinem Blick begegnete.
»Kann ich helfen?«, sagte er und meinte unüberhörbar das Gegenteil. Lea übersetzte sich die Frage ungefähr so:
Was haben Sie hier zu suchen?
»Guten Morgen, Herr Gätner«, versuchte sie es mit ausgesuchter Höflichkeit. »Ich würde Sie gern etwas fragen. Es geht um das sogenannte weiße Mädchen. Ich bin Journalistin, und …«
»Ach
Sie
sind das«, brummte Gätner, übersah ihre ausgestreckte Hand und stellte den Bottich ab. »Ich habe schon gehört, dass Sie hier herumschnüffeln.«
»Und
ich
habe gehört, dass auch Sie das weiße Mädchen gesehen haben«, erwiderte Lea unerschrocken. Sie erinnerte sich genau an die Geschichte, die Gerhard Winkelmann ihr über den Bauern erzählt hatte: Angeblich hatte dieser vor Schreck über das Auftauchen der Erscheinung seinen Wagen gegen einen Baum gesetzt.
Gätner sog hörbar die Luft ein, und seine schmalen Augen blitzten. »Jetzt hören Sie mal gut zu.« Seine Stimme klang gepresst und gleichzeitig drohend. »Manche Dinge lässt man lieber ruhen. Es hat schon seinen Sinn, dass diese ganze verrückte Familie ins Grab gestiegen ist.«
»Sie meinen die Herforths?«, hakte Lea nach. »Also sind auch Sie überzeugt, dass die Erscheinung etwas mit Christine Herforth zu tun hat?«
»Diese Leute haben dem Dorf nur Unglück gebracht«, versetzte Gätner. »Allen geht es besser, seit sie fort sind.«
Lea musterte den Mann, sein verhärmtes Gesicht mit der geröteten Nase des Gewohnheitstrinkers, dann den Hof, der verwahrlost und wenig gepflegt wirkte.
»Den Eindruck habe ich nicht«, bemerkte sie.
»Ich möchte wissen, was Sie das angeht«, brummte Gätner und wandte sich zum Gehen.
»Was für ein Unglück haben die Herforths denn über das Dorf gebracht?«, bohrte Lea und versuchte, ihn im Gespräch zu halten.
Gätner jedoch ging bereits mit schweren Schritten auf das Haus zu.
»Von mir erfahren Sie nichts«, rief er ihr über die Schulter zu. »Gar nichts! Und verlassen Sie jetzt mein Grundstück.«
Lea sah ein, dass sie hier nicht weiterkam, und wandte sich ab. Dabei stolperte sie fast über eine grau gescheckte Katze, die sich im Gebüsch seitlich der Auffahrt versteckt hatte und plötzlich hervorschoss, um mit einem erschrockenen Fauchen zum nahen Waldrand zu fliehen.
»Und wehe, Sie füttern die Katzen!«, rief Gätner ihr nach. »Ich würde die Biester eigenhändig erschlagen, wenn ich nicht befürchten müsste, dass irgendwelche Tierschützer mich deswegen anzeigen!«
Die Haustür fiel ins Schloss. Lea verließ den Hof, trotz der Unwilligkeit des Bauern um einige Erkenntnisse bereichert. Bereits der Lehrer Winkelmann hatte angedeutet, dass die Herforths in Verchow nicht beliebt gewesen waren. Gätners Verhalten bestätigte diese Behauptung. Von welchem Unglück jedoch hatte er gesprochen? Bisher wusste Lea nur, dass Christines Vater als glückloser Künstler verachtet worden war und dass ihre Mutter als verschroben bis hochnäsig gegolten hatte. Was aber hatten die Herforths den Einwohnern von Verchow angetan, dass mancher sie noch jetzt, nach so vielen Jahren, derart abgrundtief hasste? Die Katzenplage, die sie dem Dorf hinterlassen hatten, war wohl kaum ein ausreichender Grund.
Das nächste Haus, das Lea ansteuerte, war ein zweistöckiger Fachwerkbau inmitten eines Gartens mit akkuratgestutztem Gras und Zierbüschen, die wie Soldaten in Reih und Glied standen. »Harald Heimberger, Ortsvorsteher«, stand in verschnörkelter Schrift auf einer hölzernen Zierscheibe neben der Haustür. Erwartungsvoll drückte Lea die Klingel. Sie wusste, dass in sehr kleinen Dörfern ein Ortsvorsteher die Funktion des Bürgermeisters innehatte, was zu der Hoffnung berechtigte, dass Harald Heimberger ebenjene Fragen beantworten konnte, die ihr Gespräch mit dem Bauern aufgeworfen hatte.
Eine Frau öffnete, trotz vorgerückten Alters gut aussehend und gepflegt, mit rotem Lockenhaar und einer randlosen Brille auf der zierlichen Nase. Sie wirkte scheu, öffnete die Tür nur einen Spalt breit und sorgte dafür, dass der größte Teil ihres Körpers dahinter verborgen blieb.
»Ja?« Selbst ihre Stimme klang misstrauisch bis ängstlich.
»Frau Heimberger?«, mutmaßte Lea. »Ich bin Journalistin und hätte einige Fragen zu …«
»Mein Mann ist in der Gemeindeverwaltung«, unterbrach Frau Heimberger sie rasch, offenbar in der Absicht, sich keinesfalls auf ein Gespräch einzulassen. »Er
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