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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Uhr an der Bushaltestelle in Verchow.
     
    Neben dem Text war ein Foto zu sehen. Die Qualität war mäßig, dennoch war Lea gefesselt: Christine hielt den Kopf gesenkt und blickte von schräg unten in die Kamera, eine Haltung, die ihr einen abschätzenden, fast misstrauischen Ausdruck verlieh. Sie war stark geschminkt, das Gesicht erschien weiß, wie gepudert. Die Augen waren mit dunklem Eyeliner ummalt, wirkten unheimlich und auf eigentümliche Weise älter als der Rest des Gesichts.
    … als hätte sie ein Geheimnis.
Lea fielen plötzlich die Worte ein, mit denen ihr Sohn seine Maja beschrieben hatte.
Ich glaube, sie sieht Dinge, die andere Leute nicht sehen.
    Lea war entschlossen, mehr zu erfahren, und verlor keine Zeit. Rasch rief sie das Internettelefonbuch auf, wählte die Nummer der Polizei in Lüchow und erkundigte sich nach Kriminalrat Dreesen. Wie sich herausstellte, war er schon seit langem pensioniert, und seine Privatnummer kannte niemand. Erneut durchforstete Lea das Telefonbuch. Es gab nur drei Privatanschlüsse auf den Namen Dreesen in Lüchow, und schon der erste erwies sich als Treffer.
    »Sind Sie der Polizeibeamte, der damals die Suche nach der verschwundenen Christine Herforth geleitet hat?«, erkundigte sich Lea, nachdem sie sich vorgestellt hatte.
    »Das ist lange her«, erwiderte Dreesen, der eine angenehme volltönige Bassstimme hatte. »Ich bin schon seit neun Jahren außer Dienst.«
    »Aber Sie erinnern sich doch bestimmt – es war die größte Suchaktion, die jemals in dieser Gegend stattfand. Ich wollte fragen, ob Sie mir mehr über das Mädchen und über die Umstände seines Verschwindens erzählen können. Beispielsweise habe ich gehört, dass Christine schonzuvor mehrfach als vermisst gemeldet worden war. Ist das richtig?«
    Dreesen schwieg einen Moment.
    »Und Sie sind Journalistin, ja?«, hakte er vorsichtig nach.
    »So ist es.«
    »Hören Sie«, fuhr Dreesen mit veränderter Stimme fort. »Dieser Fall ist fünfundzwanzig Jahre her, und alle Ergebnisse unserer Ermittlungen wurden in einer Pressekonferenz sowie in den lokalen Zeitungen veröffentlicht. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen.«
    »Sie meinen: Mehr
dürfen
Sie mir nicht sagen?«, wandte Lea ein. »Handelt es sich um Dinge, die unter den Schutz der Privatsphäre der Beteiligten fallen?«
    »Wie gesagt: Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen«, beschied Dreesen, »schon gar nicht am Telefon.«
    »Vielleicht könnten wir uns ja treffen«, schlug Lea recht kühn vor.
    Dreesen seufzte tief. »Verehrte Dame, ich bin zweiundsiebzig Jahre alt und genieße meinen Ruhestand, soweit mein Rheuma mir das erlaubt. Wenn Sie irgendwelche Informationen wollen, dann besorgen Sie sich die damaligen Zeitungsmeldungen oder lesen Sie in der Vermisstendatei des Landeskriminalamtes nach.«
    Lea sah ein, dass sie nicht weiterkam, entschuldigte sich für die Störung und beendete das Gespräch. Eine Zeitlang grübelte sie, welchen weiteren Weg sie einschlagen sollte, überflog noch einmal die Zeitungsausschnitte – und verfiel schließlich auf die naheliegendste Idee. Alle Artikel, die sich mit Christines Verschwinden befassten, stammten vom selben Journalisten, einem R.   Mircwiz. Dieser seltene Name fand sich nur ein einziges Mal im Lüchower Telefonbuch, und Lea geriet prompt an seine Ehefrau, die ihr mitteilte, er sei noch immer bei der Zeitung tätig undzur Stunde in der Redaktion. Umso besser, dachte Lea, notierte die Durchwahl, die Frau Mircwiz ihr anstandslos gab, und wählte erneut.
    »Das ist aber lange her!«, staunte Roman Mircwiz, nachdem Lea ihr Anliegen erklärt hatte. »Ja, ja, Christine   … Ich komme nicht mehr auf den Nachnamen, aber ich erinnere mich gut an die Geschichte. Sie war meine erste größere Story. Ich hatte damals gerade erst bei der Zeitung angefangen und war froh, dass man mir die Berichterstattung übertrug.«
    »Glauben Sie, dass Sie sich noch an ein paar Einzelheiten erinnern können?«, erkundigte sich Lea. »Ich meine, nicht nur an das, was in der Zeitung stand.«
    »Kommt darauf an, was Sie wissen wollen«, meinte Mircwiz. »Allerdings habe ich im Augenblick wenig Zeit. Ich muss gleich zu einem Meeting mit meinem Chefredakteur.«
    »Das kenne ich«, erwiderte Lea verständnisvoll.
    »Aber wenn ich einer Kollegin weiterhelfen kann, will ich’s gerne versuchen«, erbot sich Mircwiz. »Hätten Sie vielleicht Lust, heute Abend gegen sieben ins ›Chickorey‹ in Lüchow zu kommen? Da könnten wir in Ruhe

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