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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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unbeliebt waren«, meinte Mircwiz. »Bei Suchaktionen nach verschwundenen Kindern gibt es oft ganze Trupps von freiwilligen Helfern, gerade in ländlichen Gebieten. Doch im Fall von Christine Herforth meldete sich niemand. Auch gab es keinen einzigen Hinweis, nachdem wir den Aufruf in der Zeitung gebracht hatten – normalerweise gehen nach einer Vermisstenmeldung Hunderte von Hinweisen ein, auch wenn der größte Teil davon wertlos ist. Ich habe damals verschiedene Anwohner in Verchow interviewt. Das war sehr aufschlussreich: Niemand schien die Sache ernst zu nehmen. Fast alle sagten übereinstimmend, die Tochter der Herforths sei schon mehrmals von zu Hause weggelaufen und treibe sich wahrscheinlich irgendwo in einer größeren Stadt herum. Ein Mann rief mir sogar über den Gartenzaun zu, man könne froh sein, dass dieses Luder aus dem Dorf verschwunden sei.«
    »Wissen Sie noch, wer das war?«
    »Tut mir leid.« Mircwiz schüttelte den Kopf. »Es ist so lange her   …«
    »Er bezeichnete Christine als ›Luder‹ – haben Sie eine Ahnung, was er damit meinte?«
    »Ich glaube schon. In der Redaktion hatten wir nur ein Foto von ihr, das der Vater der Polizei zur Verfügung gestellt hatte, aber es war deutlich zu erkennen, dass Christine nicht in ihre dörfliche Umgebung passte.«
    »Sie war ein Gothic-Mädchen, nicht wahr? Ich habe das Foto gesehen.«
    »Ein Gruftie, wie man damals sagte«, nickte Mircwiz. »Aber nicht nur das. Sie war ganz allgemein ein Problemkind. Die Polizei befragte natürlich auch Lehrer und Mitschüler, und wie sich herausstellte, war sie tatsächlich schon mehrfach von zu Hause weggelaufen. Die Eltern hatten sie vor ihrem endgültigen Verschwinden bereits zweimal als vermisst gemeldet.«
    »Wusste man, wo sie gewesen ist?«
    Mircwiz zuckte die Achseln. »Vielleicht hat sie sich in irgendeine Stadt geflüchtet, wo es eine gleichgesinnte Szene gab. Vielleicht war auch ein Freund im Spiel, von dem niemand etwas wusste   … Keine Ahnung. Die Polizei hat die Eltern sicher ausführlich befragt, aber derlei private Dinge gibt man natürlich nicht an die Presse weiter.«
    »Mir ist zu Ohren gekommen, dass Christines Vater sich wenige Tage später in der Scheune seines Gutshofs erhängt hat.«
    »Stimmt. Ich glaube, ich weiß auch, warum.«
    »Tatsächlich?«, staunte Lea.
    »Er kam zu spät, um sie von der Bushaltestelle abzuholen«, sagte Mircwiz. »Angeblich sprang sein Wagen nicht an – zumindest hat er das der Polizei erzählt. Allerdings schien der Beamte, dem ich diese Information entlockte, Zweifel an dieser Aussage zu haben. Was auch immer der Grund war, jedenfalls wäre Christine nicht verschollen, wenn der Vater rechtzeitig zur Stelle gewesen wäre. Wahrscheinlich wartete sie einige Zeit vergeblich, beschloss dann, zu Fuß bis zum Haus ihrer Eltern zu gehen – undwurde irgendwo auf halber Strecke von einem unbekannten Autofahrer zum Einsteigen genötigt. Daher gab sich Christines Vater die Schuld an ihrem Verschwinden   … und brachte sich um, nachdem die Suchaktion erfolglos geblieben war und er annehmen musste, dass seine Tochter tot sei.«
    »Haben Sie die Herforths damals persönlich interviewt?«
    »Ich habe es versucht.« Mircwiz seufzte. »Viel konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Allerdings verstand ich endlich, warum die Herforths in Verchow einen so seltsamen Ruf hatten.«
    »Erzählen Sie doch!«, bat Lea ungeduldig.
    »Na ja, sie bewohnten einen Gutshof, der – glaube ich – der Frau gehörte. Auf dem gesamten Gelände stolperte man alle drei Meter über irgendeine Katze. Als ich ankam, hockten die Tiere bereits auf dem Gartenzaun und stierten mich an. Es war geradezu unheimlich. Frau Herforth fand ich im Hof. Sie saß auf einer Gartenbank, eine ihrer Katzen im Arm. Ich sagte mein übliches Sprüchlein auf, bat darum, einige Fragen stellen zu dürfen, aber die Frau reagierte überhaupt nicht. Sie starrte einfach an mir vorbei und streichelte die Katze, ganz mechanisch wie eine Puppe. Ihr Mann muss mich wohl sprechen gehört haben, denn er kam aus der Scheune, wo er sein Atelier hatte – er war Maler, müssen Sie wissen.«
    »Ist mir bekannt«, sagte Lea zustimmend. »Konnten Sie wenigstens mit ihm sprechen?«
    »Kaum. Seine Antworten hatten wenig mit meinen Fragen zu tun. Ich erinnere mich, dass er Dinge sagte wie:
Nun haben Sie doch, was Sie wollen. Warum belästigen Sie uns noch? Wollen Sie Mitleid heucheln, oder kommen Sie aus Schadenfreude?
– So in der Art.

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