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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Ich trat rasch den Rückzug an, nicht aus Ärger, sondern weil er mir leid tatund ich begriff, dass er mit den Nerven am Ende war. Er war ein junger Mann, um die vierzig, gut aussehend, aber er hatte dunkle Ringe unter den Augen, und einer seiner Mundwinkel zuckte unbeherrscht. Ich sah zu, dass ich wegkam, und versuchte es nicht wieder.«
    »Können Sie sich Martin Herforths Reaktion erklären?«
    »Ich denke schon. Wie gesagt: Die Herforths waren unbeliebt in ihrem Dorf, und vermutlich schlug ihnen nach dem Verschwinden ihrer Tochter nicht gerade mitleidige Anteilnahme entgegen. Der Vater galt als versponnener Künstler, der vom Geld seiner Gattin lebte, und von der Mutter munkelte man, sie sei psychisch gestört. Und was Christine betrifft, so war sie den Nachbarn wahrscheinlich mindestens so suspekt wie ihre Eltern: Ein sechzehnjähriges Mädchen, das sich das Gesicht weiß schminkte, ausschließlich Schwarz trug und sich mit exotischem Schmuck behängte. Selbst der Polizei fiel bei der Befragung von Mitschülern auf, dass alle gleichlautend aussagten, Christine habe keine Freunde. Jugendliche dieser Art sind die typischen Ausreißer – kein Wunder, dass sie immer wieder aus Verchow floh. Sie war genau der Typ, vor dem brave Nachbarn ihre gleichaltrigen Kinder warnen: Habt bloß keinen Umgang mit diesem Wechselbalg, sonst verhext sie euch!«
    »Kaum zu glauben«, sagte Lea nachdenklich. »Dabei hatte ich immer gedacht, das Wendland sei ein Paradies für Leute, die gegen den Strom schwimmen.«
    »Dieser Eindruck täuscht«, behauptete Mircwiz. »Ich könnte Ihnen ein Lied davon singen, aber ich will nicht von mir sprechen. Das Wendland hat vielleicht den Ruf eines Sherwood Forest für Geächtete, aber die Alteingesessenen sind von den vielen Robin Hoods in ihrer Nachbarschaft keineswegs begeistert. – Und wer könnte esihnen verdenken? Es gibt Landwirte hier, die in der zehnten Generation sandige Geestböden bebauen und von den niedrigen Erträgen kaum leben können. Es gibt kleine Selbstständige, die mit Mühe ihre Familien durchbringen, und es gibt – vor allem – sehr viele alte Menschen. Das Wendland ist eine der strukturschwächsten Regionen in ganz Deutschland: kaum Arbeitsplätze, keine Bodenschätze, keine Industrie. Selbst die Bahnstrecken wurden nach und nach stillgelegt. Glauben Sie mir: In Wahrheit ist dieses Land ein malerisches Armenviertel und für manche seiner Bewohner eher Gefängnis als Asyl. Was glauben Sie, was diese Leute beim Anblick der Künstler, Aussteiger und Umweltaktivisten empfinden, die sich in ihrer Nachbarschaft niederlassen?«
    »Vermutlich Verachtung«, Lea nickte. »Und gleichzeitig Neid.«
    »Ich gehöre noch zur Achtundsechziger-Generation und kenne dieses Drama aus eigener Erfahrung«, sagte Mircwiz. »Viele von uns träumten damals vom einfachen Leben, zogen hierher – und mussten zu ihrem Schrecken feststellen, dass die Einheimischen sie als Störenfriede und verwöhnte Luxuskinder ansahen, die nicht wussten, was ehrliche Arbeit bedeutete.« Er seufzte tief. »Ich kann verstehen, dass manche junge Leute um jeden Preis von hier wegwollen – so viel zu Christine Herforth. Ich nehme an, sie wollte diesem deutschen Transsylvanien einfach entfliehen, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen.«
    Lea konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Vermute ich richtig, dass Sie Sympathie für das Mädchen empfinden?«
    »Das ist sicher nicht schwer zu erraten«, gab Mirkwic zu. »Zwar trage ich kein Schwarz und behänge mich nicht mit Totenköpfen, doch in den Augen der Einheimischen bin auch ich ein Außenseiter: ein typischer Intellektuellermit linksliberalen Neigungen. Als ich mit Mitte zwanzig hierherzog, bewirkten schon mein Bart und meine langen Haare, dass anständige Leute die Straßenseite wechselten.« Mit einem wehmütigen Lächeln fuhr er sich durch sein Haar, das inzwischen grau und kurz geschnitten war.
    »Warum sind Sie nicht fortgegangen?«, fragte Lea. »Si cher hätten Sie auch andernorts Arbeit gefunden.«
    »Es ergab sich nicht«, meinte Mircwiz mit einem resignierten Achselzucken. »Ich hatte meinen Job, dann kam meine Frau, das erste Kind, das gemeinsame Haus. Ich bin hier sozusagen festgewachsen – der Same keimt, wo der Wind ihn hinträgt, und sei es auch auf kargem Boden. Aber ich beklage mich nicht, denn ich hätte jederzeit die Wahl gehabt, meinem Leben eine andere Richtung zu geben. Es gibt Schlimmeres. Denken Sie an Christine Herforth: Sie

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