Das weiße Mädchen
noch schwerer zu finden, denn Lea kannte weder ihren Vor- noch ihren Mädchennamen. Schließlich jedoch erinnerte sie sich an die Passion der Gutsbesitzerin und versuchte es mit »Herforth Katzen«. Sie machte sich keine großen Hoffnungen. Katzenzüchter trafen sich zwar auf Ausstellungen, über die gelegentlich ein Pressebericht erschien, doch mussten jene Veranstaltungen, an denen Christines Mutter vielleicht teilgenommen hatte, länger zurückliegen als die Verbreitung des Internets.
Dennoch erbrachte die Suche einen Treffer: Lea landete auf einer Homepage, deren Besitzerin vierzehn Katzen hielt und das Leben jeder einzelnen vom Säuglingsalter bis zum Tod in Bildern dokumentiert hatte. Eine komplette Seite befasste sich mit der Biografie von »Kater Benny«, der stattliche neunzehn Jahre alt geworden war. Gleich das erste Foto auf der Seite zeigte, laut Bildunterschrift, »Benny im zarten Alter von drei Wochen mit seiner liebevollen ›Mama‹ Maria Herforth.«
Das schlecht belichtete Bild, deutlich aus der Zeit vor der digitalen Fotografie stammend, zeigte eine beleibte Frau mit kurzem dunklem Haar, die den kleinen Kateran ihre mächtige Brust drückte. Ihre Gesichtszüge berührten Lea eigentümlich. Sie wirkten weich, formlos, beinahe verwaschen: große kugelrunde Augen ohne erkennbare Wimpern, blasse Brauen und Lippen, großflächige Wangen und ein leichtes Doppelkinn.
Das also ist Christines Mutter,
dachte Lea.
Ob es stimmt, dass Martin Herforth sie des Geldes wegen geheiratet hat?
Aus Erfahrung wusste Lea nur zu gut, dass solche Gerüchte oft entstanden, wenn ein auffallend attraktiver Mann eine unauffällige, aber begüterte Partnerin hatte. Ebenso oft – auch das wusste sie – waren die Gerüchte pure Verleumdungen. Martin Herforth hatte sich nach dem Verschwinden der Tochter, die er mit dieser Frau gezeugt hatte, in der Scheune des Gutshofs erhängt. In Leas Augen hatte er damit unzweifelhaft bewiesen, wie viel ihm seine Familie bedeutet hatte.
»Sie haben eine neue E-Mail «, meldete der Computer plötzlich. Lea rief ihr Postfach auf, halb darauf gefasst, eine weitere Nachricht ihres anonymen Hinweisgebers vorzufinden. Stattdessen stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass Jörg Hausmann ihr geschrieben hatte.
»Liebe Lea, Du hast Glück. Der Archivservice konnte mir weiterhelfen. Anbei Berichte über das vermisste Mädchen.«
Zwei digitalisierte Zeitungsausschnitte waren als Dateien angehängt. Lea vertiefte sich augenblicklich in die Berichte.
11. Mai 1986
Größte Suchaktion in der Geschichte des Landkreises
Die Suchaktion nach der sechzehnjährigen Christine H. aus Verchow wurde gestern auf ein größeres Gebiet ausgeweitet. Eckpunkte seien jetzt die umgebenden Ortschaften Zadrau, Siemenund Ranzau, ließ der Leiter der Sonderkommission, Kriminalrat Arthur Dreesen, im Rahmen einer Pressekonferenz verlauten. Mehr als dreißig Beamte seien im Einsatz, außerdem eine Staffel von Spürhunden.
Bislang fehlt jede Spur von Christine H., die am vergangenen Freitag verschwand, nachdem sie abends gegen 21 Uhr an der Bushaltestelle in Verchow ausgestiegen war. Nach Angaben der Eltern befand sich die Schülerin auf dem Rückweg von einer längeren Reise und hatte ihr Kommen telefonisch angekündigt. Christines Vater, der sie von der Haltestelle abholen sollte, fand seine Tochter jedoch nicht vor. Die Polizei in Lüchow schließt ein Verbrechen als Ursache ihres Verschwindens nicht aus. Es sei durchaus möglich, so Kriminalrat Dreesen, dass Christine zu einem Unbekannten ins Auto gestiegen sei, um sich bis zum 2 km entfernten Haus ihrer Eltern mitnehmen zu lassen, das relativ abgeschieden im Verchower Forst liegt.
14. Mai 1986
Noch immer keine Spur im Fall der vermissten Christine
Von der sechzehnjährigen Christine H., die am letzten Freitag verschwand, fehlt noch immer jede Spur. Die polizeiliche Suchaktion wurde gestern Abend ergebnislos abgebrochen. Der Leiter der Sonderkommission bat die Bevölkerung, jeden Hinweis auf Christines Verbleib der Polizei in Lüchow oder einer anderen Polizeidienststelle zu melden.
Christine H. ist 1,68 m groß und schlank, hat schwarz gefärbtes, toupiertes Haar und trägt einen auffälligen Ohrring in Gestalt einer Schlange sowie eine Halskette mit einem Totenkopf. Nach Angaben des Busfahrers war sie mit einer weiten schwarzen Bluse und dunklen Jeans bekleidet. Zuletzt gesehen wurde sie am Freitag, dem 8. Mai, gegen 21
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