Das weiße Mädchen
Nachthimmel auszumachen.
Leas erster Impuls war, weiterzufahren und so schnell wie möglich Verchow zu erreichen. Ihr Fuß schwebte bereits über dem Gaspedal, als sie sich zur Ordnung rief.
Du Hasenfuß! War es nicht das, worauf du die ganze Zeit gewartet hast? Das ist deine Chance, der Sache auf den Grund zu gehen!
Langsam und konzentriert schaltete Lea in den Rückwärtsgang und ließ das Gas kommen. Im Schritttempo glitt der Wagen zurück auf die Straße.
Zwanzig Meter vielleicht … höchstens dreißig.
Sie setzte zurück bis zu jener Stelle, an der sie die Erscheinung gesehen zu haben glaubte, hielt an und blickte sich um. Ohne dass sie es verhindern konnte, zitterte ihr Fuß auf dem Gaspedal, was zur Folge hatte, dass der Motor ins Stottern kam und mit einem trockenen Röcheln ausging. Vollkommene Stille senkte sich über die dunkle Straße. Nur die Baumwipfel rauschten leicht im Wind.
Nichts …, da ist überhaupt nichts.
Hatte sie sich die Erscheinung eingebildet? War es vielleicht nur ein für Sekundenbruchteile angeleuchteter Busch oder ein knorriger Baumstamm gewesen, den ihre Fantasie in eine menschliche Gestalt verwandelt hatte?
Als Lea eben begann, diese Möglichkeit zu erwägen, sah sie es erneut – und diesmal bestand kein Zweifel. Der helle Schemen tauchte einige Meter weiter entfernt aus der Dunkelheit auf, tiefer zwischen den Bäumen als zuvor. Es war eindeutig ein Gesicht, von schimmernd marmorner Hautfarbe wie ein Fleck aus diffusem Mondlicht, durchschnitten von tief herabhängenden schwarzen Haarsträhnen. Der starre Blick der Gestalt war auf die Straßegerichtet, direkt in Leas ungläubig geweitete Augen. Diesmal bewegte sich die Erscheinung und glitt langsam von links nach rechts, um schließlich erneut zu verschwinden, wahrscheinlich im Schatten eines Baumstamms.
Lea bemerkte, dass ihr Herz heftig klopfte, und atmete tief, um sich zu beruhigen.
Also gut …, es ist ein Mensch. Da drüben steht ein Mensch zwischen den Bäumen und beobachtet mich. Er oder sie trägt schwarze Kleidung und hat schwarzes Haar, und deshalb sehe ich nur das Gesicht. Was hindert mich, auszusteigen und im wahrsten Sinn des Wortes diesem Spuk ein Ende zu machen?
Bislang hatte es nur wenige Situationen in Leas Leben gegeben, die ihr ungewöhnlichen Mut abverlangten – ein Interview mit der einzigen Überlebenden eines schweren Verkehrsunfalls, eine Fahrt mit einem Heißluftballon, eine Zahnwurzelbehandlung. Nichts davon war auch nur entfernt mit dem zu vergleichen, was sie in diesem Augenblick erwog. Sollte sie tatsächlich aussteigen?
Komm schon! Du glaubst nicht an Gespenster, und du bist eine mutige, selbstbewusste Frau!
Das Türschloss klickte leise, als Lea die Verriegelung löste. Entschlossen packte sie den Griff und öffnete die Tür. Kühle Nachtluft strich über ihr Gesicht, als sie sich seitwärts vom Fahrersitz schob. Drüben im Wald, etwa in der Richtung, wo die unheimliche Erscheinung verschwunden war, knackte ein Zweig.
»Hallo?«, rief Lea, neben der geöffneten Wagentür stehend. »Ist da jemand?«
Ihre Stimme klang eigenartig dünn in der umgebenden Stille.
Hätte ich doch den Motor wieder angeworfen
, dachte sie beklommen. Das gleichmäßige Brummen hätte zu ihrer Beruhigung beigetragen. Nun jedoch hörte sie nichts alsdas leise Rauschen der Baumwipfel – eine unbehagliche Geräuschkulisse, in der jedes Rascheln oder Knistern ebenso gut auf den Wind wie auf Schritte hindeuten mochte.
»Wenn Sie da sind, dann zeigen Sie sich bitte! Ich möchte nur mit Ihnen reden.«
Eigentlich hätte sie sich angesichts dieser Worte zu ihrem Mut gratulieren müssen, – tatsächlich jedoch bebte sie vor unterdrückter Angst.
Also gut …, niemand antwortet. Steig wieder ein und fahr ins Dorf zurück!
Doch Lea zögerte.
Sofort!,
verlangte die Stimme der Angst gebieterisch.
Du hast es versucht. Das sollte genügen.
Im selben Moment jedoch tauchte das schemenhafte Gesicht zum dritten Mal aus der Dunkelheit auf: Weit entfernt zwischen den Bäumen, mindestens fünfzig Meter von der Straße entfernt. Es war nun kaum mehr als ein schwach schimmernder Fleck, nur auszumachen, indem man längere Zeit auf dieselbe Stelle starrte. Lea zweifelte noch an ihrer Beobachtung – als diese plötzlich zur Gewissheit wurde, weil die Erscheinung sich abermals zu bewegen begann. Diesmal glitt sie nicht seitwärts hinter einen Baum, sondern entfernte sich, als ginge die Gestalt, der das Gesicht
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