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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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gehörte, langsam rückwärts. Wenn es so war, bewegte sie sich mit erstaunlicher Lautlosigkeit, denn kein Knacken verriet ihre Schritte. Auch wandte die Unbekannte das Gesicht nicht ab – noch immer war es starr zur Straße gerichtet, und Lea glaubte zu fühlen, wie der Blick jener fremden Augen den ihren festhielt.
    Ich soll ihr folgen
, begriff Lea.
Sie will, dass ich nachkomme.
    Noch vor wenigen Minuten, in der Sicherheit ihres allseitig verschlossenen Wagens, hätte Lea diesen Gedankenweit von sich gewiesen. Nun aber, da sie im Freien stand und die Nachtluft auf dem Gesicht spürte, fiel ihr die Entscheidung leichter. Langsam beugte sie sich hinab, um den Zündschlüssel abzuziehen und in die Tasche zu stecken. Dann schloss sie behutsam die Wagentür und umrundete die Motorhaube, bis sie unmittelbar vor dem Waldrand stand. Erst jetzt fiel ihr auf, dass wenige Meter zur Rechten eine Schneise durch das Unterholz führte – einst wahrscheinlich ein Wirtschaftsweg, jedoch so stark überwuchert, dass er kaum noch zu erkennen war. Die Erscheinung, noch immer als heller Fleck wahrnehmbar, schwebte ein Stück abseits des Wegs unter den Bäumen.
    »Was wollen Sie?«, rief Lea, mehr um ihre eigene Stimme zu hören als in Erwartung einer Antwort.
    Die Erscheinung verharrte kurz, dann glitt sie weiter rückwärts.
    Lea betrat den Waldweg. Gras knisterte unter ihren Schuhen, als sie sich vorwärtstastete, eine Hand ausgestreckt, um nicht in tief hängende Äste hineinzulaufen.
    Warum tust du das?,
fragte sie sich.
Es ist stockdunkel, du kennst die Gegend nicht, und da drüben schimmert ein Gesicht unter den Bäumen, das womöglich irgendeiner Verrückten gehört.
    Es ist nur ein Mensch
, antwortete eine innere Stimme in dem Bedürfnis, sie zu beruhigen und ihr Wagnis zu rechtfertigen.
    Ja, aber ein Mensch, der die Rolle eines Gespenstes spielt,
gab Lea zu bedenken.
Wie krank muss man sein, um so etwas zu tun? Diese Psychopathin könnte über dich herfallen, sobald sie dich tief genug in den Wald gelockt hat.
    Lea biss die Zähne zusammen und zwang sich, die Stimme zu ignorieren. Langsam pirschte sie weiter voran, den Blick auf jene Stelle gerichtet, wo sie das Gesichtzuletzt gesehen hatte. Inzwischen schien es sich in den tiefsten Schatten zurückgezogen zu haben, denn Lea konnte sein schwaches Schimmern nicht mehr ausmachen. War die Unbekannte überhaupt noch vor ihr – oder hatte sie erreicht, was sie wollte, und schlich sich nun von der Seite heran, um sich auf sie zu stürzen?
    Ein plötzlicher Schauder überlief Lea. Sie hielt inne, lauschte, wandte den Blick in alle Richtungen. Hinter sich konnte sie, gefiltert durch Zweige und Gestrüpp, undeutlich die Scheinwerfer des stehenden Wagens erkennen. Der Lichtkegel schien bereits weit entfernt. Wie tief mochte sie in den Wald eingedrungen sein? Hundert Meter? Hundertfünfzig?
    Dann knackte ein Zweig. Lea fuhr herum – und erblickte das weiße Gesicht ein gutes Stück voraus, noch immer seitlich des Wirtschaftswegs. Diesmal erkannte sie es deutlicher als zuvor, denn ein Mondstrahl fiel durch die Wipfel der Kiefern und ließ die bleichen Wangen schimmern wie blanke Knochen.
    »Also gut!«, rief Lea absichtlich laut, um nicht nur der Unbekannten, sondern auch sich selbst ihre Entschlossenheit zu versichern. »Ich komme! Ich spiele Ihr Spiel mit. Wenn Sie nicht sprechen wollen, dann zeigen Sie mir einfach, was ich tun soll!«
    Wie zur Antwort glitt das Gesicht abermals rückwärts, heraus aus dem Mondlicht und tief in den Schatten.
    Nur noch ein kleines Stück
, schwor sich Lea, um ihre Angst zu beherrschen.
Nur noch fünfzig Meter, dann kehre ich um.
    Langsam setzte sie ihren Weg fort. Farnwedel streiften ihre nackten Unterarme, und abgefallene Zweige knackten unter ihren Sohlen. Ihr Blick schoss wachsam umher, versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen, Konturen auszumachen. Doch das unheimliche Gesicht zeigte sichnicht mehr – stattdessen wichen die Bäume zurück, und Lea trat auf eine Lichtung hinaus, die mit niedrigem Buschwerk bewachsen war. Das Mondlicht erhellte die verfallenen Überreste eines kleinen Hauses: Eingebrochene Mauern ragten aus dem Gestrüpp empor und bildeten ein lang gezogenes Rechteck, überrankt von Kletterpflanzen. Unmittelbar vor Leas Füßen lagen zerbrochene Latten, die vermutlich einst zu einem Gartenzaun gehört hatten.
    »Hallo?« Lea drehte sich um sich selbst. »Sind Sie hier?«
    Was würde ich für eine Taschenlampe geben!,
dachte

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