Das weiße Mädchen
bekam
keine
Chance. Die Wurzel wurde ausgerissen, noch bevor sich die Pflanze entwickeln und zum Licht drehen konnte. Irgendjemand beschloss, den Schandfleck von Verchow auszutilgen – und es würde mich nicht wundern, wenn all die anständigen, braven, biederen Bürger im Ort heimlich applaudiert hätten.«
»Sie glauben also, dass Christine ermordet wurde?«, folgerte Lea. »Womöglich von jemandem aus Verchow? Ist es das, was Sie andeuten wollen?«
Mircwiz, der in sein leeres Bierglas gestarrt hatte, hob die Augen und blickte ihr mit einem resignierten Ausdruck ins Gesicht. »Was glauben Sie denn? Für Hexen gibt es selbst im Märchen kein Happy End. Meistens werden sie verbrannt.«
Es war gegen halb neun, als Lea die Heimfahrt antrat. Roman Mircwiz hatte sich mit der Begründung verabschiedet, seine Frau werde ihm noch ein heimliches Verhältnis andichten, wenn er länger ausbliebe. Pflichtschuldighatte Lea sein Lachen erwidert und sich herzlich bei ihm bedankt. Der Ausflug hatte sich in jeder Beziehung gelohnt: Der Journalist war eine angenehme Gesellschaft gewesen, und darüber hinaus hatte er dem Bild, das sich Lea von Christine Herforth gemacht hatte, einige aufschlussreiche Facetten hinzugefügt.
Angenommen, er hat recht,
dachte Lea, als sie in Groß Heide auf die Waldstraße abbog.
Angenommen, Christine wurde ermordet – und kannte ihren Mörder …
Es war Mai und die Dämmerung eben erst hereingebrochen. Die Straße war dunkel. Lediglich die Leitpfosten blitzten im Kegel der Scheinwerfer auf. Lea schauderte unwillkürlich. Auch damals, als Christine verschwand, war Mai gewesen, sogar in etwa die gleiche Tageszeit. Vierundzwanzig Jahre waren vergangen, doch die einsame Straße hatte bestimmt genauso ausgesehen wie jetzt: ein dunkles Band in der Nacht, umgeben vom tiefen Schwarz des Kiefernwaldes, durch dessen Kronen der Mond schimmerte. Hatte das Mädchen tatsächlich beschlossen, zu Fuß die zwei Kilometer von Verchow bis zum Hof ihrer Eltern zu gehen? Lea versuchte, sich in ihre Situation zu versetzen. Was hätte sie selbst getan?
Ich hätte jemanden angerufen,
dachte sie,
ein Funktaxi im Notfall. Auf keinen Fall wäre ich einfach drauflosgewandert.
Dann erst fiel ihr ein, dass junge Leute im Jahr 1986 noch keine Handys bei sich getragen hatten. Natürlich hätte Christine auch ins Dorf gehen, an irgendeiner Tür klingeln und um Hilfe bitten können – doch wie Roman Mircwiz ausführlich dargelegt hatte, war das Verhältnis zwischen den Herforths und der Dorfbevölkerung nicht gerade innig gewesen.
Draußen in der Dunkelheit glitten die Leitpfosten vorbei, einer nach dem anderen, in den üblichen Fünfzig-Meter-Abständen.Der Anblick war in gewisser Weise beruhigend: ein Stück Berechenbarkeit inmitten der Wildnis ringsum, regelmäßige Lichtblitze in der Finsternis, verlässlich wie die Taktschläge eines Metronoms.
Und so stutzte Lea, als einer der Lichtblitze ausblieb. Erstaunt blickte sie zum rechten Fahrbahnrand. Dann fielen ihr die Worte von Frau Heller ein: Einer der Leitpfosten war abgeknickt, weil Bauer Gätner ihn vor Jahren umgefahren hatte. Offenbar hatte sich die Kommune nie um die Behebung des Schadens gekümmert.
Oh mein Gott!
Leas Fuß rutschte vom Gas. Sie sah es nur für einen kurzen Moment, schemenhaft aufflammend neben dem Lichtkegel ihrer Scheinwerfer: einen hellen Fleck unter den Bäumen am rechten Straßenrand. Mit erschrocken geweiteten Augen starrte sie zur Seite, als die Erscheinung an ihr vorüberglitt, verlor die Kontrolle über das Steuer und spürte, wie der Wagen schlingerte.
Verdammt!
Es gelang ihr gerade noch, auf die Bremse zu treten, bevor ihr Fiesta von der Fahrbahn abkam, die nicht einmal durch einen Bordstein vom angrenzenden Unterholz getrennt war. Ein tief hängender Ast schrammte knirschend am rechten Kotflügel vorbei. Als der Wagen endlich stillstand, atmete Lea keuchend aus. Sie brauchte mehrere Sekunden, um die verkrampften Hände vom Lenkrad zu lösen.
Ich habe es gesehen … ich habe es wirklich gesehen.
Es war ohne jeden Zweifel ein menschliches Gesicht gewesen, in Kopfhöhe unter den Bäumen schwebend, ohne dass der dazugehörige Körper zu erkennen war. Lea blickte in den Rückspiegel, dann wandte sie sich um und spähte durch die Heckscheibe nach hinten. Sie sah nichts,abgesehen vom schwachen Schein der Rücklichter. Lediglich die hohen Wipfel der Kiefern waren als tiefschwarze Schatten vor dem anthrazitfarbenen
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