Das weiße Mädchen
gehört haben und sich einen Jux machen wollen«, meinte Kai leichthin.
»Schon möglich«, sagte Lea, obwohl sie diese Erklärung eigentlich für ausgeschlossen hielt. »Aber ich wüßte es gern genauer.«
Sie erreichten den Rand der Lichtung, und Lea stellte den Wagen ab. Als sie ausstieg, erkannte sie den Ort kaum wieder: In der Nacht hatte er bedrohlich und unübersichtlich gewirkt, im hellen Tageslicht dagegen offenbarte er sich als annähernd rechteckiges Grundstück, in dessen Mitte, märchenhaft romantisch, die überwachsene Hausruine stand. Lea musste an Gemälde von Caspar David Friedrich denken, an verfallene Schlösser zwischen rauschenden Baumwipfeln.
»Apart«, urteilte Kai, der sich mit verschränkten Armen an einen Baum lehnte. »Fast der richtige Platz für ein Picknick – nur ein bisschen viel Schutt für meinen Geschmack.«
»Haben Sie Ihren Onkel nach dem Haus gefragt?«, wollte Lea wissen.
»Oh ja, habe ich«, erinnerte sich Kai. »Er sagt, dass die meisten Leute im Ort das Haus kennen. Der Waldweg führt nach Norden in einer großen Schleife zum Dorf zurück. Spaziergänger mit Hunden kommen gelegentlich hierher.«
»Weiß Ihr Onkel, wem das Haus gehört hat?«
»Er sagt, dass es schon seit mehr als fünfzig Jahren eine Ruine ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden hier Flüchtlinge aus Schlesien untergebracht, aber später verfiel das Haus, weil es nicht mehr gebraucht wurde. Anfang der Achtziger ist dann irgendeine alternative Kommune hier eingezogen – Kernkraftgegner, die Aktionengegen das Atommülllager in Gorleben planten. Rudi sagt, sie hätten die Ruine einfach in Besitz genommen und begonnen, sie auszubauen, mit improvisiertem Dach, Kamin und allem Drum und Dran. Er erinnert sich gut daran, weil er beruflich mit der Sache zu tun hatte.«
»Wie das?«
»Rudi war doch beim Bauamt tätig. Die Ökofreaks hatten das Haus einfach ›instandbesetzt‹ – so nannte man das damals – und natürlich hatten sie für die Umbauten keine Genehmigung eingeholt. Irgendjemand zeigte sie an, und die Polizei ließ das Gebäude räumen. Rudi wurde beauftragt, die Baustelle zu inspizieren, um Gefahren für die Umwelt auszuschließen.«
»Ah, verstehe.«
Lea ging über die Lichtung, blickte sich um und suchte nach der Grube, über deren Rand sie in der vergangenen Nacht gestolpert war. Im Tageslicht war die Stelle nicht schwer zu finden – ein dunkler Fleck inmitten des dichten Teppichs aus Büschen und Farnen. Die Grube war annähernd kegelförmig, kaum zwei Meter breit und einen Meter tief. Der Aushub bildete einen ringförmigen Krater.
»Was ist das denn?«, fragte Kai, der an Leas Seite getreten war.
»Hier bin ich gestern Nacht hineingestolpert … Irgendjemand hat hier gegraben.«
»Da drüben auch!«, bemerkte Kai, der sich umblickte. Tatsächlich hatte er eine zweite Bodenverwerfung entdeckt, von ähnlicher Form und Tiefe, jedoch halb verdeckt von Farnbüscheln.
»Das muss schon länger her sein«, erkannte Lea. »Der Aushub ist mit Gras bedeckt.« Sie umrundete das verfallene Haus, den Blick zu Boden gerichtet, und entdeckte mehrere weitere Gruben von unterschiedlicher Größe und Tiefe.
»Das sieht ja aus wie ein Kriegsschauplatz«, bemerkte Kai, der ihr mit gerunzelter Stirn folgte. »Ein Krater neben dem anderen.«
»Die meisten scheinen ziemlich alt zu sein«, stellte Lea fest. »Es sieht fast so aus, als wäre hier über Monate oder Jahre hinweg an verschiedenen Stellen gegraben worden.«
»Warum sollte jemand das tun? Kann es nicht sein, dass der Boden einfach instabil ist und von selbst einsinkt?«
Lea schüttelte den Kopf. »Hier hat jemand systematisch gesucht.«
»Aber wonach?«
Als Lea nicht antwortete, blickte Kai sie ungläubig von der Seite an. »Sie denken doch wohl nicht an dieses verschollene Mädchen?«
»Doch, genau daran denke ich«, bestätigte Lea, ließ sich am Rand eines der Krater nieder und befühlte den Boden. »Offenbar gibt es jemanden, der überzeugt ist, dass sie hier auf dieser Lichtung verscharrt wurde.«
Kai ließ ein verunsichertes Lachen hören. »Ach kommen Sie … Glauben Sie nicht eher, dass das Ganze das Werk irgendwelcher Jugendlicher ist? Laut meinem Onkel wurden die Wälder damals mit Spürhunden durchkämmt. Hier hat man sicher zuerst gesucht – in unmittelbarer Nähe der Straße.«
»Dennoch scheint jemand zu glauben, dass das Mädchen hier begraben liegt.«
Nachdem sie die Lichtung umrundet hatte, inspizierte Lea noch
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