Das weiße Mädchen
sagte Frau Mathijs zurückhaltend. »Briefe und E-Mails werden an seine Agentin in Deutschland weitergeleitet. Sie regelt alles Übrige. Direkten Kontakt zu Herrn Thanatar haben wir nicht. Meines Wissenshat selbst sein Lektor nie persönlich mit ihm gesprochen.«
»Und ich nehme an, dass auch die Daten seiner Agentin vertraulich sind?«
»So ist es.«
»Aus alldem schließe ich, dass ich praktisch keine Möglichkeit habe, mit dem Mann Kontakt aufzunehmen, richtig?« Lea wollte die Katze aus dem Sack lassen – in der vagen Hoffnung, ein wenig Druck auszuüben und ihre Gesprächspartnerin zu größerer Mitteilsamkeit zu bewegen. »Das ist sehr bedauerlich. Ich habe nämlich Hinweise, die vermuten lassen, dass er Mitwisser eines Verbrechens ist. Seine Werke enthalten verschlüsselte Andeutungen über lange zurückliegende Geschehnisse in einem kleinen Dorf in Niedersachsen. Meinen Sie nicht, dass es in Herrn Thanatars eigenem Interesse wäre, mit mir darüber zu sprechen – bevor sich womöglich die Polizei dafür interessiert?«
Frau Mathijs schwieg einen Moment, antwortete jedoch schließlich – zu Leas Überraschung – in vollkommen ruhigem Ton.
»Solche Vermutungen hören wir oft, Frau Petersen.«
»Tatsächlich?«
»Oh ja. Ganze Fanclubs beschäftigen sich damit, geheime Botschaften aus den Werken von Herrn Thanatar herauszulesen – Zahlencodes, versteckte Buchstaben und Worte, Hinweise auf Orte, Daten und dergleichen. Seine Comics haben Kultstatus, und da sie keinen Text enthalten, sind sie für spekulative Interpretationen vorzüglich geeignet – etwa wie eine Hieroglyphenschrift, zu der ein Schlüssel fehlt. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht irgendwelche E-Mails bekomme, bei denen es um geheime Botschaften geht. Einige seiner Fans glauben, dass Tom Thanatar ein Medium ist und in seinen Werken Visionenverarbeitet, die sich auf tatsächlich stattgefundene Verbrechen beziehen.«
»Und was antworten Sie auf diese Anfragen?«
»Ich sende sie an Herrn Thanatars Agentin weiter. Ob er sie beantwortet oder auch nur liest, kann ich nicht sagen.«
»Verstehe«, murmelte Lea entmutigt.
»Wenn Sie sich für diese Dinge interessieren«, bot Frau Mathijs an, »kann ich Ihnen die Adressen mehrerer Fanforen im Internet geben, deren Mitglieder sich über Geheimcodes in Herrn Thanatars Werken austauschen. Mehr kann ich leider nicht für Sie tun.«
Lea ließ sich die Adressen geben, bedankte sich und beendete das Gespräch.
Die Fanforen erwiesen sich als enttäuschend, auch wenn Lea über die Zahl der Teilnehmer staunte und einen Eindruck davon gewann, wie nachhaltig die Werke des Zeichners seine Leser beschäftigten. Ein komplettes Forum beschäftigte sich ausschließlich mit der
Dichotomia -Trilogie
, wobei die Mitglieder sich in den wildesten Theorien über Sinn und Hintersinn der Comics ergingen. Einer vertrat die These, dass Thanatar transsexuell sein müsse, da der Held des Comics über zwei Gesichter verfügte. Ein anderer wies darauf hin, dass das Motivvon begrabenen oder unter der Erde gefangenen Menschen, die sich verzweifelt bemerkbar zu machen versuchten, in allen drei Teilen des Comics wiederkehrte, und zog Parallelen zu Edgar Allan Poe und Dostojewski. »Schreiende Gräber«, lautete der Titel seines Eintrags, »Das Motiv des Lebendig-Begraben-Werdens bei Tom Thanatar«. Wieder andere interpretierten die Geschichten als Hinweise auf tatsächliche Ereignisse, etwa eine ungeklärte Mordserie in Hessen oder den Jahre zurückliegenden Freitod eines bekannten Popsängers.Nach Hinweisen auf Verchow und das Verschwinden von Christine Herforth suchte Lea hingegen vergeblich. Zwar beschäftigten sich tatsächlich einige Posts mit der Grabinschrift »C. v. Verchow«, doch fassten alle Fans die Inschrift als Personennamen auf und fanden zu keiner plausiblen Interpretation. Ein Forenmitglied war so weit gegangen, mit nahezu allen Familien namens »Verchow« in ganz Deutschland Kontakt aufzunehmen, um nachzufragen, ob sie Angehörige verloren hätten.
Das Klingeln des Handys unterbrach Leas Exkursion im Internet. Es war David, der sich erkundigen wollte, ob sie die Fotos mit den Comicseiten erhalten hatte. Lea bejahte dankend, erzählte von ihrem Anruf beim Verlag und von dem Fanforum.
»Das wird ja immer spannender«, meinte David. »Mei ne Mum, die Detektivin – cool!«
Lea lachte verlegen. »Na ja, viel habe ich bis jetzt noch nicht aufgedeckt. Ich irre nur von einem Rätsel zum
Weitere Kostenlose Bücher