Das weiße Mädchen
Abmachung schließen?«, raunte Kai.
»Eine Abmachung?«
Sie spürte sein Lächeln, ohne es zu sehen. »Die Abmachung«, flüsterte er, »besteht darin, dass du Stopp sagst, wenn ich zu weit gehe.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, näherte er sich ihrem Gesicht, bis seine Wange die ihre streifte.
Was für ein kluger Schachzug,
dachte Lea.
Ich soll Stopp sagen. Auf diese Weise schiebt er mir die Verantwortung zu.
»Kai …«, begann sie in der Absicht, ihn mit vorsichtigen Worten in die Schranken zu weisen.
»Mmm?«, brummte er, die Wange immer noch an ihrer, sodass sie das Vibrieren seiner Stimme spüren konnte.
Lea zögerte.
Ich möchte das eigentlich nicht,
lag ihr auf der Zunge, doch plötzlich, wie in einem verspäteten Reflex, überlief sie ein angenehmer Schauder. Seine Wange fühlte sich gut an – glatt rasiert, doch eben rau genug, um seine Männlichkeit ahnen zu lassen.
»Ach … nichts«, flüsterte sie.
Nichts?,
echote die skeptische Stimme in ihrem Inneren.
Was soll das heißen? Du kennst ihn erst seit drei Tagen, und das hier geht eindeutig zu weit. Wenn du dem einen Riegel vorschieben willst, musst du es jetzt tun.
Aha,
antwortete Lea in Gedanken, plötzlich sarkastisch .
Vielen Dank für den Hinweis. Könntest du jetzt mal für einen Augenblick still sein und mich genießen lassen?
Die kritische Stimme verstummte schlagartig – vermutlich vor Schreck, weil Lea ihren Rat noch nie derart entschieden zurückgewiesen hatte.
»Du denkst schon wieder«, stellte Kai mit einem leisen Seufzen fest. »Was ist es diesmal?«
»Nichts«, wiederholte Lea und fühlte endlich, wie ihre Muskeln sich entspannten. Auch Kai schien es zu spüren. Ermutigt wandte er den Kopf, und Lea fühlte seinen Atem über ihre Lippen streichen. Den ersten, zögerlichen Kuss nahm sie reglos entgegen. Beim zweiten öffnete sie die Lippen, und den dritten forderte sie selbst, indem sie eine Hand auf seinen Hinterkopf legte und ihn an sich zog.
Mein Gott, wie habe ich das vermisst,
dachte sie plötzlich, und das Verlangen überfiel sie mit einer Macht, wie sie nur aus jahrelanger Entbehrung erwachsen konnte. Leas Leben war nie unerfüllt oder gar langweilig gewesen, schon gar nicht, seit David auf der Welt war – plötzlich aber schien ihre Rolle als Mutter ebenso ausgelöscht wie ihr Alter. Lea war wieder siebzehn, saß bei Nacht in einem geparkten Wagen und küsste einen Jungen.
Während sie jedoch im wirklichen Alter von siebzehn weit zurückhaltender gewesen war, fielen nun alle Hemmungen von ihr, die einst Furcht und mangelnde Erfahrung ihr auferlegt hatten. Es gab nichts mehr zu fürchten: Es gab keine besorgten Eltern, die darauf warteten, dasssie nach Hause kam, keinen Vater, der sich beschweren würde, wenn die Sitzpolster des Wagens eingedrückt oder zerkratzt waren, und keine Mutter, die sie beiseitenehmen würde, um ein ernstes Gespräch über Verhütung mit ihr zu führen.
Es hat auch seine Vorteile, erwachsen zu sein,
dachte Lea – und wie aus Versehen schob sie Kais rechte Hand, die auf ihrer Taille ruhte, ein Stück weiter bis zur Hüfte hinab. Er drückte sie an sich, und da keiner von beiden bereit war, sich vom anderen zu lösen, wälzten sie sich eine Weile ungeduldig, bis es Lea endlich gelang, über den Schalthebel auf den Beifahrersitz zu klettern. Unversehens fand sie sich auf Kais Schoß wieder, packte seinen Kopf mit beiden Händen und küsste ihn so heftig, dass er nach Luft schnappte.
»Wow!«, flüsterte er, als sie sich von ihm löste. »Du bist ja so stürmisch wie ein Teenager.«
Lea schmunzelte. »Auch
du
hast das Recht, Stopp zu sagen, wenn es dir zu schnell geht – das nennt man Gleichberechtigung.«
»Den Teufel werde ich tun!«, wehrte er ab und zog sie erneut an sich. Diesmal fanden sich ihre Lippen nicht. Stattdessen barg Lea seinen Kopf an ihrem Hals und begann sich langsam in den Hüften zu wiegen. Eine Weile schloss sie die Augen, genoss die Bewegung und hörte Kais beschleunigten Atem an ihrem Hals. Als sie die Augen wieder öffnete, blickte sie über den Rücksitz direkt auf die Heckscheibe des Wagens. Abwesend nahm sie einen hellen Fleck hinter dem Glas wahr, einen Schemen draußen in der Dunkelheit. Erst nach einem Moment der Verwirrung erkannte sie die Konturen: umschattete Augen über bleichen Wangen, durchbrochen von einzelnen Strähnen pechschwarzen Haars. Das Gesicht war ganz nahe. Es schwebte nur wenige Zentimeter von der Scheibe entfernt in der
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