Das weiße Mädchen
eindeutig aus der Sicht des Opfers schilderten. Thanatar identifizierte sich unverkennbar mit dem zweigesichtigen Mann, der in
Dichotomia III
zum Galgen geführt wurde, und ebenso mit der eingeschlossenen Frau in
Sepulchra
. Allzu realistisch waren Angst und Schrecken in den Gesichtern der Figuren gemalt. Ein psychopathischer Mörder jedoch – das hatte Lea einmal gelesen – war in der Regel nicht in der Lage, die Leiden seiner Opfer nachzuempfinden und sich ihre Gefühle vorzustellen.
Die einzige Rolle, die Lea dem Zeichner zuweisen konnte, war folglich die eines Mitwissers. Er wusste oder ahnte, was mit Christine Herforth geschehen war, und teilte es in seinen Comics auf verschlüsseltem Wege mit. Doch wozu? Wenn ihm daran lag, Christines Verschwinden aufzuklären, wäre eine Aussage bei der Polizei zweifellos zweckdienlicher gewesen als die Erfindung von Bildergeschichten, die vieldeutig und selbst seinen Fans ein Rätsel waren. Irgendetwas hinderte ihn daran, die Dinge beim Namen zu nennen – sichtbar ausgedrückt durch seinen Verzicht auf Texte und Sprechblasen in den Comics. Wovor fürchtete er sich?
Inzwischen war es nach vierzehn Uhr, und der Hunger zwang Lea, ihre Grübeleien vorläufig beiseitezuschiebenund sich ein Mittagessen zuzubereiten. Dann rüstete sie sich für ihre Exkursion in den Wald. Während sie sich umzog, klopfte es an der Tür. Lea öffnete – und blickte in das jungenhafte Gesicht Kai Zirners.
»Hallo!«, grüßte er. »Ich wollte eigentlich nur fragen, ob es bei heute Abend bleibt.«
»Oh …« Lea, die die Verabredung bei all der Aufregung schlicht vergessen hatte, schluckte betroffen. »Ja, doch … gern …, wenn es etwas später sein darf? Ich habe noch etwas vor.«
»Ich nehme nicht an, dass Sie mich daran teilhaben lassen?«, mutmaßte Kai.
»Na ja …« Lea lachte verlegen. »Ich glaube nicht, dass Sie große Lust haben, sich ein verfallenes Gebäude im Wald anzusehen.«
Kai legte den Kopf schief. »Ein Gebäude im Wald? Gehört das zu Ihren Nachforschungen?«
Lea nickte.
»Draußen ist herrliches Wetter«, meinte Kai. »Und ein Waldspaziergang wäre mir gerade recht.«
»Na dann …«
»Prima! Ich sage nur kurz meinem Onkel Bescheid.«
Er wollte sich bereits abwenden und die Treppe hinaufsteigen, als Lea etwas einfiel.
»Warten Sie, Kai! Könnten Sie vielleicht Ihren Onkel fragen, ob er das Haus kennt? Es liegt einen halben Kilometer vor dem Ortseingang, an einem Wirtschaftsweg, der nach Norden in den Wald führt.«
»In Ordnung, ich frage ihn.«
Lea verließ das Haus und wartete draußen bei ihrem Wagen. Sie wusste nicht recht, wie sie es Kai erklären sollte, doch für einen Spaziergang war ihr der Zielort selbst bei Tageslicht zu unheimlich. Sie würde sich sicherer fühlen, wenn sie das Auto bei sich hatte.
»Ah – diesmal chauffieren Sie?«, fragte Kai, der kurze Zeit später erschien und sich auf den Beifahrersitz fallen ließ. »Das verspricht ja spannend zu werden.«
»Vielleicht auch nicht«, schränkte Lea vorsorglich ein. »Womöglich werden Sie sich langweilen.«
»In Ihrer Gesellschaft? Das glaube ich kaum.«
Lea wandte ihr Gesicht ab, um das Lächeln zu verbergen, das dieses Kompliment hervorrief. Da ihr keine schlagfertige Antwort einfiel, schob sie den Zündschlüssel ins Schloss und ließ den Wagen an.
Sie fuhren die kurze Strecke bis zu jenem Punkt an der Landstraße, wo der abgeknickte Leitpfosten von Bauer Gätners einstigem Unfall zeugte. Wie sich herausstellte, war der alte Wirtschaftsweg zwar überwuchert, doch noch immer breit genug, um befahren zu werden. Lea bog ab, und eine Weile holperten sie im Schritttempo durch den Wald.
»Glauben Sie nicht, dass es zu Fuß angenehmer wäre?«, meinte Kai.
»Nein«, antwortete Lea. »Ich war gestern Abend zu Fuß hier, und ich versichere Ihnen, dass dieser Ausflug alles andere als angenehm war.«
»Wieso?« Kai lachte. »Haben Sie etwa das Gespenst gesehen?«
Lea nickte ernst.
»Wie – tatsächlich?«
»Ich sah ein Gesicht im Dunkeln, als ich aus Lüchow zurückkehrte, und hielt an. Die Unbekannte – wahrscheinlich war es eine Frau – lockte mich über diesen Waldweg bis zu dem Haus, das ich mir anschauen möchte.«
»Das ist nicht Ihr Ernst!« Kai schien beeindruckt. »Da spielt also tatsächlich jemand den Geist dieses verschwundenen Mädchens?«
»Offensichtlich.«
»Wahrscheinlich irgendwelche Jugendlichen aus dem Ort, die die Geschichte von ihren Eltern
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