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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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einmal das Haus. Selbst hier gab es eine Stelle, die von den Bemühungen des unbekannten Fahnders zeugte: Der Betonboden des einstigen Bades, erkennbar an einer Auflage aus verblichenen Kacheln, war aufgerissen. Die Spuren ließen auf mühevolle Arbeit mit einem Handwerkszeug schließen, wahrscheinlich einer Spitzhacke.Auch hier war ein Krater entstanden, der bis ins Erdreich unterhalb der Fundamente des Hauses führte. Ein zerschlagenes Abwasserrohr ragte aus einer Seitenwand der Grube.
    »Die Gemeinde sollte sich darum kümmern«, meinte Kai kopfschüttelnd. »Das ist ja lebensgefährlich mit all diesen Fallgruben! Vielleicht sollte ich mit meinem Onkel reden, damit dieser Abenteuerspielplatz planiert wird.«
    »Tun Sie das nicht, Kai!«, bat Lea ernsthaft. »Diese Gruben sind die heißesten Spuren, auf die ich bisher gestoßen bin. Es scheint, dass irgendjemand seit Jahren immer wieder hierherkommt, um Grabungen vorzunehmen.«
    »Und weshalb sollte er glauben, dass das Mädchen ausgerechnet hier begraben liegt?«, fragte Kai skeptisch.
    »Das erscheint mir offensichtlich«, sagte Lea. »Be stimmt hat er Christines Geist an der Straße gesehen. Ich meine, die Frau, die diesen Geist spielt. Wahrscheinlich hat sie ihn bis zu dieser Lichtung geführt – so wie mich gestern Abend   –, und seitdem ist er überzeugt, dass hier der Ort sein muss, an dem Christine starb.«
    In ihrem Geist formte sich ein überraschend klares Bild des Unbekannten: Er stand zu Christine Herforth in einer besonderen Beziehung, hatte sich nie damit abgefunden, dass die polizeilichen Untersuchungen ohne Ergebnis geblieben waren, und suchte daher seit Jahren nach ihrer Leiche. Das ließ auf eine Person schließen, deren Besessenheit ans Pathologische grenzte.
    »Wenn Sie noch lange grübeln, werde ich eifersüchtig«, scherzte Kai. »Ich muss mir wohl irgendeinen Trick einfallen lassen, um Ihre Aufmerksamkeit wiederzugewinnen.«
    »Entschuldigen Sie.« Lea lächelte verlegen. »Aber jetztbin ich fertig. Ich habe herausgefunden, was ich wissen wollte.«
    »Wunderbar!«, sagte Kai. »Dann können wir ja gehen. Was halten Sie davon, wenn wir diese Schutthalde mit dem gemütlichen Restaurant in Groß Heide vertauschen?«
    »Um diese Zeit? Es ist gerade erst Nachmittag.«
    Kai zuckte die Achseln. »Dann machen wir eben vorher noch einen schönen Spaziergang. Das regt den Appetit an.«
    Lea zögerte.
    »Na, kommen Sie schon!« Kai lehnte sich an eine der verwitterten Mauern und zeigte sein jungenhaftes Lächeln. »Sie haben doch eigentlich Urlaub, oder nicht?«
    Lea nickte ergeben. »Also gut.«
     
    Sie verließen die Ruine, fuhren ein Stück über Land, bis der Wald sich lichtete, und spazierten eine volle Stunde über Wiesen und Felder. Es war angenehm, wie Lea zugeben musste, denn das ruhige Dahinschlendern klärte ihren Kopf und reinigte ihre Gedanken. Kai gab sich alle Mühe, sie zu unterhalten, erwähnte mit keinem Wort ihre Nachforschungen und fragte sie stattdessen über ihren Beruf und ihre Lebensgeschichte aus. Lea gab bereitwillig Auskunft und genoss sein Interesse. Fast kam sie sich ein wenig unhöflich vor, da sie kaum Gelegenheit fand, ihn ihrerseits nach seinem Leben zu befragen. Zwei- oder dreimal wagte sie einen zaghaften Vorstoß in dieser Richtung, doch Kai winkte ab.
    »Der Alltag eines Steuerberaters ist nicht besonders spannend«, sagte er. »Zum Glück erledigen meine Angestellten die Routinearbeit, sodass ich mich um besondere Kunden kümmern kann.«
    »Zählt zufällig auch Ihr Onkel zur Kundschaft?«, mutmaßte Lea.
    Kai lächelte verschämt. »Sie haben es erraten. Er ist recht vermögend, und wenn ich schon einmal hier bin, kümmere ich mich natürlich auch um seine Finanzen. Um die Wahrheit zu sagen: Die Vermietung der Ferienwohnung war meine Idee. Wozu hat man Immobilien, wenn man sie kaum nutzt und andererseits auch keinen Profit daraus zieht? Das Haus war für eine vierköpfige Familie gedacht, aber Rudi bewohnt seit Jahrzehnten nur noch drei Zimmer im ersten Stock. Nun ist er Vermieter, und ich erledige seine Buchhaltung.«
    »Sie tun viel für ihn«, bemerkte Lea.
    »Er ist mein einziger Verwandter«, nickte Kai, »und ich bin – glaube ich – so etwas wie sein angenommener Sohn.«
    »Dann erben Sie wahrscheinlich auch das Haus?«, wagte Lea zu fragen.
    Kai seufzte. »Ja, so ist es. Glauben Sie nicht, dass mir das angenehm ist! Rudi hat mich gebeten, sein Testament aufzusetzen – ein beklemmendes Gefühl, vor

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