Das weiße Mädchen
…«
»Er sagte doch, es hätte Zeit.«
»Leider nicht viel.« Widerstrebend löste sich Kai von ihr. »Ich muss heute noch weg, und zwar möglichst vor elf Uhr.«
»Nanu? Wohin willst du denn?«
Kai seufzte. »Nach Uelzen. Es gibt da einen Kunden, um den ich mich persönlich kümmern muss.«
»Wann kommst du wieder?«
»Morgen Abend.«
»Du bleibst eine Nacht fort?«
»Nicht zu vermeiden. Morgen früh muss ich mit dem Finanzamt über die Aussetzung von Verzugszinsen verhandeln – die Umsatzsteuer des Kunden ist längst überfällig.Du kannst mir glauben, dass ich die Nacht lieber bei dir verbringen würde.«
»Könntest du in Uelzen vielleicht … etwas besorgen?«, bat Lea verlegen. »Hier im Ort gibt es ja nicht einmal eine Apotheke …«
Kai grinste, während er sein Hemd überstreifte. »Geht es um Kondome, die
nicht
seit zwei Jahren abgelaufen sind?«
Lea nickte errötend.
»Ich kümmere mich darum. Versprochen.«
Sie gönnten sich noch ein schnelles Frühstück, doch Kai war bereits auf dem Sprung und verließ die Wohnung bald, um nach oben zu gehen und seinem Onkel den gewünschten Dienst zu leisten. Er versprach, sich noch zu verabschieden, bevor er fuhr. Lea wurde die Zeit nicht lang, denn Kai war kaum gegangen, als ihr Handy klingelte. Sie ahnte bereits, dass es David war.
»Mum! Du klingst so fröhlich – gute Laune heute?«
»Äh – ja.« Unwillkürlich riss Lea sich ein wenig zusammen.
»War was Besonderes?«, fragte David.
»Ach, nein«, schwindelte Lea, die sich nicht auf Erklärungen einlassen wollte. »Gibt es bei dir etwas Neues?«
»Wie man’s nimmt. Ich hatte gestern Abend ein längeres Gespräch mit Maja – unser erstes, das länger als fünf Minuten dauerte. Sie hat mich sogar auf ihr Zimmer eingeladen. Allerdings mussten wir aufpassen, dass die Betreuer es nicht merken.«
»Sieh an!«, sagte Lea ehrlich interessiert. »Und wie war’s?«
»Na ja …«, druckste David. »Silke war dabei – die Freundin, mit der sie ihr Zimmer teilt. Deshalb konntenwir nicht ganz so offen reden. Aber immerhin hat sie mir einiges über Tom Thanatar erzählt.«
»Weiß sie denn etwas über ihn?«
»Nicht wirklich«, meinte David. »Sie findet ihn einfach supercool, hat mir noch mehr Comics von ihm gezeigt und auch diverse Fanforen, in denen sie Mitglied ist. Das Forum, von dem du mir gestern erzählt hast, war auch dabei. Allerdings kennt sie keines der anderen Mitglieder persönlich.«
»Schade.«
»Ansonsten weiß sie auch nicht mehr über diesen Thanatar als andere Fans. Zu Hause hat sie ein Autogramm von ihm, das ihr der Verlag geschickt hat, nachdem sie einmal dorthin gemailt hat. Und sein Foto hat sie auch aufgehängt.«
»Hast du ihr gesagt, dass das Foto wahrscheinlich gar nicht echt ist?«
»Angedeutet.« David lachte. »Aber sie wollte es nicht glauben. Dieser Typ ist für sie einfach der absolute Traum, und sie lässt nicht zu, dass man an ihm zweifelt. Sie sagt, er ist ein Visionär, ein Genie – und wahrscheinlich ein Medium, jemand, der Dinge sieht, die andernorts oder zu anderen Zeiten geschehen sind.«
»Ja, das sagte die Frau vom Verlag auch«, erinnerte sich Lea. »Glaubst du, dass das stimmt?«
»Ach, Mum, das ist doch Quatsch.«
Mein Sohn, der Realist,
dachte Lea schmunzelnd. Mit Übersinnlichem durfte man ihm nicht kommen. Schon als Sechsjähriger hatte er sich über mangelnde Logik in den Märchen ereifert, die Lea ihm vorgelesen hatte.
»Ich glaube kein Wort davon«, bekräftigte David. »Und Silke übrigens auch nicht. Ich habe genau gesehen, wie sie die Augen verdrehte, als Maja mit ihrer Hymne auf diesen Kerl anfing. Schon komisch: Ansonsten hat Maja nämlichden totalen Durchblick. Sie redet selten – jedenfalls im Unterricht –, aber wenn sie einmal etwas sagt, ist es immer klug und treffend, sodass alle sich wundern. Bei Deutschaufsätzen sahnt sie grundsätzlich Einsen ab. Wie kann sie nur gleichzeitig so dumm sein, wenn es um diesen Thanatar geht?«
»Auch intelligente Menschen sind manchmal ein wenig blind, wenn sie für jemanden schwärmen«, meinte Lea. »Findest du sie deswegen weniger interessant?«
David zögerte einen Moment. »Nein«, gab er schließlich zu. »Eher im Gegenteil. Ich bin wohl selbst ein wenig blind, was Maja betrifft.«
Lea lachte verständnisvoll.
Sie beendeten das Gespräch bald, denn Davids Klasse plante einen Tagesausflug, und der Aufbruch stand kurz bevor. Lea vertrieb sich die Zeit, indem sie
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