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Das weiße Mädchen

Das weiße Mädchen

Titel: Das weiße Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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einen weiteren Kaffee trank, verspürte schließlich das Bedürfnis nach frischer Luft, öffnete die Terrassentür und trat in den hinteren Garten hinaus. Hier war sie bisher noch nicht gewesen. Dass Kais Onkel ein begeisterter Gärtner war, hatte Lea längst begriffen, erst aus der Nähe jedoch gewann sie einen Eindruck von der Mühe und Sorgfalt, die der Mann auf seine Pflanzen verwendete. Der Garten war parkartig angelegt, mit schmalen Wegen zwischen üppigem Grün, einer weißen Holzbank und einem Teich, jedoch nicht künstlich dekorativ, sondern mit viel Freiraum für Wildwuchs. Es gab keinen gestutzten Rasen. Stattdessen wucherten ganze Kolonien von Löwenzahn und Stiefmütterchen, aus denen die prächtigen Rosenbüsche aufragten wie Kronen.
    Lea umrundete den Teich, der von Seerosen bedeckt war. Der Weg führte zu einer Art Laube, gebildet aus den Ästen dreier Kirschbäume, in deren Schatten eine Bank stand. Zwischen den Stämmen war ein rundes Areal freigeharktund mit Rosenblättern bestreut worden. In seiner Mitte lag ein flacher, unbehauener Feldstein. Lea trat näher – und erschrak, als sie feststellte, dass Buchstaben und Zahlen in die Oberfläche gemeißelt waren.
     
    Karin Zirner
    1946   –   1985
     
    »Keine Sorge, ich habe meine Frau nicht im Garten vergraben«, sagte eine Stimme.
    Lea fuhr herum und erblickte Rudolf Zirner, der mit einem Rechen in der Hand den Gartenweg herabkam.
    »Oh«, stammelte sie, »es tut mir leid, wenn ich   …«
    »Schon gut.« Zirner winkte ab, lehnte den Rechen an einen der Bäume und trat zu dem Stein. »Meine Frau liegt auf dem Friedhof in Lüchow«, erklärte er. »Aber meine gesundheitliche Verfassung erlaubt es nicht mehr, ständig dorthin zu fahren. Deshalb habe ich diese Gedenktafel anfertigen lassen   … So kann ich jeden Tag bei ihr sein, zumindest in Gedanken.«
    Leas Beschämung ging in Ergriffenheit über. Sie wusste nichts über die Familie der Zirners, erinnerte sich jedoch, dass Kai den frühen Tod seiner Tante erwähnt hatte. 1985
– das ist fünfundzwanzig Jahre her,
dachte sie gerührt.
Und er denkt immer noch jeden Tag an sie.
Rasch überschlug sie das Alter der Verstorbenen.
    »Ihre Frau starb   … mit Ende dreißig?«
    Zirner nickte. »Nach einer Fehlgeburt. Streptokokken-Infektion mit septischem Schock.« Er blickte auf, und Lea bemerkte, dass seine Augen gerötet waren. »Wissen Sie, wie selten so etwas heutzutage ist? Vor hundert Jahren starb noch jede zweite Frau im Kindbett, aber heute liegt die Wahrscheinlichkeit unter eins zu zehntausend.«
    Lea schwieg betroffen, da ihr keine angemessene Erwiderungeinfiel. Glücklicherweise trat im selben Moment Kai durch die offene Terrassentür, eine Reisetasche über der Schulter.
    »Ach,
da
seid ihr!« Mit federndem Schritt kam er zu ihnen herüber. »Ich muss jetzt los, es wird höchste Zeit.«
    Rudolf Zirner nickte. »Fahr vorsichtig.«
    Kai wandte sich Lea zu, zögerte einen Moment – und küsste sie schließlich auf den Mund. »Bis morgen!«
    Als er ging, schwankte Lea zwischen Freude und Verlegenheit. War es angemessen, ihre Gefühle in Gegenwart von Kais Onkel zu offenbaren? Schließlich kannten sie sich erst seit wenigen Tagen, während Rudolf Zirner noch heute um seine vor Jahrzehnten verstorbene Gattin trauerte.
    »Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen«, sagte er, als hätte er Leas Gedanken erraten. »Ich wünsche Kai das Allerbeste, in jeder Beziehung. Er ist wie ein Sohn für mich, umso mehr, da mir eigene Kinder versagt blieben. Er mag Sie, und es tut ihm gut, dass Sie hier sind. Das Zusammenleben mit einem alten Mann ist nicht sonderlich spannend für ihn.«
    Lea schwieg, denn seine Offenheit beschämte sie ein wenig.
    »Sie sind nicht verheiratet?«, fragte Zirner, den Blick auf die Gedenkplatte gerichtet.
    Lea schüttelte den Kopf. »Ich habe einen Sohn«, überwand sie sich zu gestehen. »Er ist sechzehn. Mit seinem Vater habe ich schon seit langem keinen Kontakt mehr.«
    Zirner nickte bedächtig. »Es ist nicht gut, wenn ein Junge ohne Vater aufwächst. Aber wer weiß, vielleicht bleibt es ja nicht dabei. Mein Neffe ist ein eingefleischter Junggeselle, aber wenn Sie sich Mühe geben   …«
    Lea lachte verlegen und zugleich befreit. Dass der Mann ihr Verhältnis derart wohlwollend, ja hoffnungsvoll betrachtete, hatte sie nicht erwartet.
    »Ich   … weiß im Moment noch nicht recht«, begann sie zurückhaltend.
    »Warten Sie’s ab«, meinte Zirner. »Was

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