Das weiße Mädchen
zusammengehört, das findet sich, manchmal innerhalb weniger Tage. Bei mir und Karin war es genauso.«
Lea folgte seinem Blick, der auf der Gedenktafel ruhte. »Sie sind wirklich sehr nett, Herr Zirner. Bitte sagen Sie mir, falls Sie während Kais Abwesenheit irgendwelche Hilfe brauchen. Ich würde mich bemühen, ihn so gut wie möglich zu ersetzen.«
»Danke, aber das wird nicht nötig sein. Ich werde mich um die Rosen kümmern wie jeden Tag, mir den Gemüsekuchen von gestern aufwärmen und früh schlafen gehen. – Und was haben Sie vor? Sagen Sie nicht, dass Sie immer noch Nachforschungen über dieses verschwundene Mädchen anstellen!«
»Ehrlich gesagt, doch«, gab Lea zu, die bereits einen Plan für den Tag gefasst hatte. »Am liebsten würde ich mir einmal das ehemalige Anwesen der Herforths ansehen. Sie sagten neulich, dass der Gutshof leer steht?«
Zirner seufzte und wandte den Blick von der Gedenktafel ab. »Er
stand
lange Zeit leer, weil sich kein Erbberechtigter ermitteln ließ. Eigentümer war also einstweilen der Staat. Vor zehn Jahren aber hat irgendein schwerreicher Kerl den Hof gekauft. Er ist praktisch nie dort und lässt sich auch nicht im Dorf blicken. Meines Wissens wohnt er in Hamburg.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich war damals noch beim Bauamt tätig, und der Käufer beantragte die Ausschachtung einer neuen Klärgrube. Abwasserentsorgung ist hier in der Gegend einechtes Problem: Es gibt keine flächendeckende Kanalisation, und auf vielen abgelegenen Grundstücken müssen eigene Sammelbecken gebaut werden.«
»Aber Sie kennen den neuen Besitzer nicht persönlich?«
»Nein«, brummte Zirner. »Ich hatte bloß seinen Antrag auf dem Tisch. Niemand im Dorf kennt ihn. Das Haus dient ihm vermutlich als Kapitalanlage. Offenbar wird es nicht einmal vermietet.«
»Sind Sie sicher?«
»Nein, sicher bin ich nicht. Ich weiß auch nur, was die Leute so erzählen. Viele waren natürlich neugierig, als das Haus verkauft wurde, und ein paar Spaziergänger haben sich mehr oder weniger absichtlich dorthin verirrt. Angeblich ist nie jemand dort, abgesehen von einer Haushälterin, die gelegentlich den Hof fegt. Das Haus hat nicht einmal einen Briefkasten an der Straße, und es wird auch keine Mülltonne herausgestellt. Wenn Sie mehr wissen wollen, fragen Sie am besten Frau Gätner. In Sachen Klatsch ist sie immer bestens informiert.«
Lea erinnerte sich an die unfreundliche Frau im Laden und beschloss, Zirners Ratschlag lieber nicht zu beherzigen. »Ich denke, ich werde am besten selbst einmal dort vorbeischauen. Wo liegt der Hof?«
»An der Straße nach Groß Heide, etwa zwei Kilometer hinter dem Ortsausgang.«
Lea verabschiedete sich, um in ihre Wohnung zurückzukehren, entschloss sich, angesichts des späten Frühstücks auf ein Mittagessen zu verzichten, und brach am späten Vormittag zu ihrer Erkundung auf. Erneut fuhr sie die Waldstraße entlang, passierte den umgeknickten Leitpfosten und hielt Ausschau nach der Auffahrt, die zum ehemaligen Grundstück der Herforths führte. Wiesich herausstellte, lag diese noch ein ganzes Stück weiter westlich. Es war kein Wunder, dass Lea sie bislang übersehen hatte, denn sie war weder asphaltiert noch von einem Zaun begrenzt. Erst bei genauerem Hinsehen war ein verwittertes Schild mit der Aufschrift PRIVATWEG zu entdecken, das sich in den Schatten der Bäume duckte.
Lea stellte ihren Wagen ab und schlug den Weg ein, der mitten in den Wald führte. Rund hundert Schritte zählte sie, bis die Bäume zurückwichen und sich zu einer Lichtung öffneten, die die Größe eines Fußballfeldes besaß. In der Mitte des offenen Platzes erhob sich ein mächtiges, zweistöckiges Herrenhaus, mit dreieckig überdachten Fenstern und Säulen zu beiden Seiten der Eingangstür. Die gesamte Vorderfront war malerisch mit wildem Wein überwachsen. Mehrere Wirtschaftsgebäude, niedrige Schuppen und eine massige Scheune mit Giebeldach gruppierten sich in einiger Entfernung.
Das gesamte Gelände war von einem mannshohen Maschendrahtzaun umgeben, der auch ein gemauertes Tor mit schmiedeeisernen Gitterflügeln umschloss. Probeweise drückte Lea gegen eines der Gitter, das zu ihrer Überraschung mühelos aufschwang. Langsam ging sie auf das Herrenhaus zu, stieg die breite Treppe hinauf und suchte vergeblich nach einer Klingel. Noch nicht einmal ein Türklopfer war zu finden.
Eine Berührung an ihrem Bein erschreckte Lea. Instinktivtrat sie mit dem linken Fuß aus, hörte ein
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