Das weiße Mädchen
Dunkelheit.
Mit einem erschrockenen Keuchen fuhr Lea in die Höhe, prallte mit dem Kopf gegen die niedrige Decke.
»Was ist los?«, raunte Kai benommen unter ihr. »Habe ich dir wehgetan?«
»Das Gesicht!«, rief Lea entsetzt. »Es ist an der Heckscheibe – ganz nahe beim Wagen!«
In diesem Moment glitt der Schemen in der Dunkelheit rückwärts und entfernte sich.
»Was?« Kai schien wie aus einem Traum zu erwachen. »Wo?«
Er verdrehte den Oberkörper, um über die Schulter zu spähen. Lea rutschte von seinem Schoß und zog sich auf den Fahrersitz zurück. Beschämt bemerkte sie, dass sie zitterte.
»Ich sehe nichts«, sagte Kai achselzuckend. »Bist du sicher …«
»Natürlich bin ich sicher!«, schrie Lea, außerstande, ihre Aufregung zu beherrschen. Ihr erster Impuls bestand darin, die Fahrertür aufzureißen und ins Freie zu stürzen, um die Beobachterin zu stellen – doch Angst verdrängte die Idee.
Kai seufzte. »Wenn es dich beruhigt, sehe ich nach.« Er griff nach der Beifahrertür.
Nein, bleib bei mir!,
wollte Lea impulsivausrufen, bezwang sich jedoch. Weder vor sich selbst noch vor Kai wollte sie als ängstliche Frau dastehen, die eingeschüchtert im Wagen blieb, während ihr männlicher Beschützer sich der Bedrohung stellte.
»Wir sehen gemeinsam nach«, entschied sie.
Kai zuckte die Achseln. »Wie du willst.«
Beide Türen schwangen gleichzeitig auf. Kühle Nachtluft strich über Leas Gesicht, als sie sich umsah. Die Straße lag vollkommen leer und still unter dem Nachthimmel. Hier und dort ließ der Mond ein Stück Asphalt aufschimmern.Der Wald zur Rechten jedoch war undurchsichtig wie eine schwarze Wand.
»Nichts zu sehen«, sagte Kai, der um den Wagen herumging und das Heck inspizierte.
»Auch keine Fußspuren?«, fragte Lea.
»Bei der Dunkelheit unmöglich zu sagen. Hast du eine Taschenlampe im Wagen?«
Lea wollte gerade verneinen, als das Knacken eines Zweigs sie herumfahren ließ. Auch Kai blickte auf und lauschte.
»Sie ist da, glaub es mir!«, beteuerte Lea flüsternd.
Kai ging ein paar Schritte auf den Waldrand zu. »Hallo?«
Für einige Sekunden blieb alles still. Dann glaubte Lea ein fernes Rascheln zu hören, wie von einem flüchtenden Reh, das sich entfernte. Das Geräusch wurde rasch schwächer und ging im Rauschen der Baumwipfel unter.
»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Kai. »Da war tatsächlich jemand.«
»Wenn ich es dir doch sage!«, beharrte Lea. »Es war dasselbe Gesicht, das ich gestern Abend gesehen habe, ebenso hell geschminkt und mit denselben dunkel umrandeten Augen.«
Kai seufzte. »Ich glaube dir ja. Aber wir können ihm – oder ihr – nicht folgen. Es ist stockdunkel, und die Bäume schlucken auch noch das bisschen Mondlicht. Wir würden uns verirren, uns sämtliche Kleider zerreißen und froh sein, wenn wir am Ende den Wagen wiederfänden.«
Lea nickte resigniert.
»Lass uns nach Hause fahren«, riet Kai. »Wenn du willst, kannst du ja morgen wiederkommen und bei Tageslicht nach Spuren suchen.«
Er schickte sich an, wieder in den Wagen zu steigen, zögerte jedoch, als er Leas versteinerten Gesichtsausdruck bemerkte.
»Lea?« Er ließ die Wagentür los, trat zu ihr und legte einen Arm um ihre Taille. »Kommst du?«
Sie nickte abwesend.
Schweigsam fuhren sie nach Verchow zurück, und Lea war froh, als das Ortsschild im Lichtkegel der Scheinwerfer aufblitzte. Das Dorf war wie ausgestorben, nur hier und dort flackerte das bläuliche Licht eines laufenden Fernsehers durch geschlossene Vorhänge. Ohne ein weiteres Wort mit Kai zu wechseln, fuhr Lea die Sackgasse zum Haus der Zirners hinauf und stellte den Wagen ab. Beide stiegen aus und gingen über den Kiesweg des Vorgartens zur Haustür. Lea schloss auf – leise, um Kais Onkel nicht zu wecken – und schlich über den Flur zu ihrer Wohnungstür. Kai folgte ihr auf dem Fuß.
»Weißt du noch, wo wir stehen geblieben waren, als das Gespenst uns den schönen Abend verdarb?«, fragte er mit einem leichten Lächeln.
Lea wandte sich zu ihm um.
Ein Kuss zum Abschied?,
dachte sie.
Ob das wohl genügt, um mich zurückziehen zu dürfen?
Sie küsste ihn flüchtig, die Türklinke in der Hand.
»Wir sehen uns morgen, Kai«, sagte sie. »Ich glaube, ich muss jetzt ein wenig allein sein. Und ich brauche meinen Schlaf. Seit ich hier eingezogen bin, habe ich nicht besonders gut geschlafen.«
Kai hob eine Augenbraue.
»Oh, es liegt nicht am Bett«, versicherte Lea. »Ich weiß auch
Weitere Kostenlose Bücher