Das weiße Mädchen
Fauchen und erblickte eine gescheckte Katze, die die Treppe hinabsprang und im Gebüsch verschwand. Offenbar hatte das Tier sich vertrauensvoll an Leas Wade geschmiegt, und sie hatte ihm vor Schreck einen Fußtritt versetzt.
Sieh an: Ganz unbewohnt ist dieser Hof also doch nicht.
Wie zur Bestätigung öffnete sich im selben Moment die Tür zu einem Geräteschuppen, und heraus trat eine Gestalt in einem knöchellangen Kleid, das Haar von einem Kopftuch bedeckt. In der rechten Hand trug sie eine Harke, in der linken einen Plastikeimer. Ohne Lea zu bemerken, die etwa dreißig Schritte entfernt stand, steuerte sie auf eine Gruppe verwilderter Büsche zu und setzte das Werkzeug an, um Unkraut auszujäten.
»Hallo?«, rief Lea.
Die Frau reagierte nicht. Erst als Lea die Treppe hinabstieg und auf sie zuging, hob sie den Kopf.
»Guten Tag«, begann Lea höflich. »Bitte entschuldigen Sie mein Eindringen, aber das Tor stand offen.«
Die Frau richtete sich auf, ohne die Harke loszulassen. Lea hatte ein seltsames Gefühl der Irritation beim Anblick ihres Gesichts: Es wirkte bis auf einige Falten seitlich des Mundes alterslos. Die Augen mit den langen Wimpern sowie die zierliche Nase bildeten einen eigentümlichen Kontrast zu dem schmallippigen Mund und dem kräftigen, fast männlichen Kinn.
»Ich bin Journalistin«, erklärte Lea.
Die Frau starrte sie einen Moment fragend an, legte beide Hände auf ihre Ohren, dann auf ihren Mund und schüttelte den Kopf.
Taubstumm,
schloss Lea, die diese Geste schon einmal gesehen hatte.
Verflixt, das macht die Sache nicht einfacher.
Die Frau half ihr aus der Verlegenheit, indem sie in eine Tasche ihres Kleides griff und eine handbeschriebene Karte hervorholte.
Ich mache hier sauber.
Wenn Sie ein Nachricht für Herr Berger haben, bitte Sie geben mir oder schreiben auf.
Lea las den Text zweimal, abgelenkt von der Betrachtung der Hand, die ihr die Karte entgegenhielt – einer schmalfingrigen, edel geformten Hand mit sauber manikürten Nägeln.
»Herr Berger? Ist das der Eigentümer?«, fragte sie, wobei sie vergaß, dass ihr Gegenüber sie gar nicht hören konnte. Die Frau jedoch nickte, was Lea vermuten ließ, dass sie die Worte von ihren Lippen ablas.
»Ist Herr Berger hier?«, fragte sie ermutigt.
Die Haushälterin verneinte stumm.
»Kommt er in Kürze wieder?«
Erneutes Kopfschütteln.
»Wissen Sie, wo ich ihn erreichen kann?«
Abwehrend erwiderte die Frau Leas Blick und wies erneut auf die Karte: »
…
bitte Sie geben mir oder schreiben auf
.«
»Verstehe«, sagte Lea. »Nein, ich habe keine Nachricht für Herrn Berger. Vielen Dank trotzdem.«
Und in Ermangelung weiterer Fragen, die sich sinnvollerweise mit ja oder nein beantworten ließen, wandte Lea sich um und trat den Rückweg an. Sie spürte, dass die Frau ihr nachblickte, und vermied es, sich umzudrehen, bis sie das Tor hinter sich geschlossen hatte und den Waldweg zur Straße zurückging.
Also gut, Rudolf Zirner hat recht: Der Hof steht leer. Vermutlich ist der Eigentümer niemals hier und bezahlt lediglich eine Haushälterin, die sich um das Nötigste kümmert. Trotzdem kommt es mir merkwürdig vor, ein so großes Haus nicht wenigstens zu vermieten.
Auf dem Rückweg ins Dorf beschloss Lea, ein paar Erkundigungen einzuziehen. Sobald sie wieder in ihrer Wohnung war, rief sie die Stadtverwaltung in Dannenberg an und fragte sich zum Amtsgericht durch, wo sich dasGrundbuchamt befand. Vorsorglich verschwieg sie diesmal ihren Beruf und behauptete stattdessen, sich für den Kauf des Hauses zu interessieren.
»Wer ist der Besitzer? Bisher konnte ich nur herausfinden, dass er mit Nachnamen Berger heißt. Können Sie mir seine Kontaktdaten geben?«
»Leider nein«, erwiderte eine freundliche Büroangestellte. »Dazu berechtigt uns das Gesetz nur, wenn Sie ein begründetes Interesse nachweisen können. Allerdings sehe ich gerade, dass hier eine Telefonnummer steht, die herausgegeben werden darf. Es handelt sich um eine Frau Ilkic, die sich um alle Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Grundstück kümmert.«
Lea ließ sich die Nummer geben, dankte und legte auf. Unter der Nummer von Frau Ilkic meldete sich der Anrufbeantworter einer Anwaltskanzlei. Lea verzichtete darauf, eine Nachricht zu hinterlassen. Anfangs hatte ein unbestimmtes Gefühl ihr suggeriert, der Hausbesitzer könnte in irgendeiner Beziehung zu den Herforths stehen, nun jedoch vermutete sie, dass es sich um einen Spekulanten handelte,
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