Das weiße Mädchen
seltenen Fällen auch beim Menschen grippeähnliche Symptome auslösen kann, gibt es nicht. Frau G. bekam lediglich die Auflage, ihr Grundstück mit einem mindestens zwei Meter hohen Zaun zu sichern, damit die Tiere keine Ausflüge mehr in die Umgebung unternehmen. »Teddy« und seine 25 Artgenossen werden also zukünftig in der heimischen Scheune jagen müssen, wenn sie einmal Lust auf eine Maus verspüren.
Hochinteressant,
dachte Lea. Die genannten Personen zu identifizieren bereitete ihr keine Schwierigkeiten. Als Insiderin wusste sie, dass Familiennamen in Zeitungsberichten meistens geändert wurden, wobei man den Anfangsbuchstaben nicht selten durch einen anderen ersetzte, der im Alphabet davor oder dahinter stand. Maria »G.« war ohne Zweifel Maria Herforth, und hinter »Hans F.« konnte sich nur Hans Gätner verbergen, der einzige Landwirt im Ort. Somit klärte sich auf, warum der Bauer noch nach Jahren einen solchen Groll gegen die Herforths hegte: Ihren Katzen schrieb er die Verbreitung der Seuche zu, die ihn mehrere Jungtiere und gewiss eine Menge Geld für die Behandlung der Überlebenden gekostet hatte. Vermutlich war er es gewesen, der die Herforths angezeigt hatte.
Doch war das wirklich der ursprüngliche und einzige Grund der Feindseligkeiten gewesen? Oder hatte die Tierseuche für Gätner nur einen Anlass geboten, um einer schon länger gehegten Abneigung gegen die Herforths Ausdruck zu verleihen?
»Es wäre nicht das erste Mal, dass
man versucht, uns mit haltlosen Beschuldigungen das Leben schwer zu machen«,
hatte Martin Herforth gesagt – und das wies darauf hin, dass die Anzeige nur ein Akt einer seit langem bestehenden Fehde gewesen war. Worin bestand der wahre Grund des Streits?
Einstweilen kam Lea zu keinem Schluss. Sie bereitete sich ein frühes Abendessen zu und fragte sich, wie sie den Rest des Tages verbringen sollte. Am liebsten hätte sie Kai bei sich gehabt, denn seine Gegenwart hatte noch vor kurzem jeden Gedanken an ihre Recherchen auf wohltuende Weise verdrängt. Flüchtig erwog sie, ihn anzurufen, dann erst fiel ihr ein, dass sie seine Handynummer gar nicht hatte.
Auf der Suche nach Zerstreuung streifte Lea durch die Wohnung, fand auf einem Bord ein paar Bücher, stellte aber rasch fest, dass nichts Lesenswertes dabei war. Auch einen Fernseher gab es nicht – sie erinnerte sich an Kais Worte, dass sein Onkel nichts von modernen Medien hielt. So blieb ihr nichts anderes übrig, als am Balkonfenster zu stehen und in den Garten hinauszublicken, über den sich allmählich die Dämmerung senkte.
Entspann dich,
befahl sie sich selbst.
Schaffst du es nicht einmal, dich ein wenig abzulenken?
Sie schaffte es nicht. Gegen einundzwanzig Uhr saß Lea in ihrem Wagen und fuhr die Landstraße Richtung Groß Heide hinab – mit Tempo vierzig, den Blick auf den linken Straßenrand gerichtet. Der umgeknickte Leitpfosten kam in Sicht, glitt vorüber und verschwand im Dunkeln. Kein weißes Gesicht schwebte unter den Bäumen.
Na komm schon!,
dachte Lea. Diesmal war sie entschlossen, die Unbekannte zu ertappen und ihr Geheimnis ein für allemal zu lüften. Noch am Vortag hatte sie sich gefürchtet, obwohl Kai bei ihr gewesen war. Heutejedoch hätte sie ohne weiteres den Mut aufgebracht, aus dem Wagen zu springen und die Erscheinung zu stellen – wenn sie denn auftauchte. Lea fuhr etwa einen Kilometer weiter, hielt an, wendete auf offener Straße und fuhr die gleiche Strecke zurück. Wieder passierte sie den abgebrochenen Leitpfosten; wieder war der Wald ringsum dunkel und verlassen.
Lea sah auf ihre Uhr: zehn nach neun. Sie erreichte das Ortsschild von Verchow, wendete erneut und fuhr die Strecke ein drittes Mal ab, nun im Schritttempo. In Gedanken plante sie bereits, was sie tun würde, wenn die unheimliche Gestalt erschien. Diesmal würde sie sich nicht auf Verfolgungsspielchen einlassen. Besser war es vermutlich, rasch und geradewegs auf die Unbekannte zuzugehen, bevor sie sich in den Wald zurückziehen konnte. Sie durfte nicht zögern und musste die passenden Worte parat haben:
Bitte warten Sie, ich möchte nur mit Ihnen reden!
Vielleicht sollte sie sogar hinzufügen, dass sie Journalistin war.
Und wenn es eine Verrückte ist?,
fragte sich Lea beklommen .
Wenn vernünftige Worte sie gar nicht erreichen?
Wieder passierte sie den Leitpfosten und sah nichts als dunkle Kiefernstämme am Straßenrand.
… Worte sie gar nicht erreichen …
Lea trat auf die Bremse. Eine
Weitere Kostenlose Bücher