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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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gewesen, als die Kinder es jetzt waren, doch der stark geschminkten jungen Frau an der Kasse war es egal, dass Benjamin zu klein war und vielleicht Angst haben könnte vor der bösen Stiefmutter, und ich erinnerte mich nicht mehr an meine frühere Angst. Im Foyer schmiss Benjamin die riesige Pappfigur von John Travolta um, die Frau rannte aus ihrem Kassenhäuschen und Paul zuckte zusammen. Ich ging schnell mit den Kindern in den Saal, obwohl der Film noch lange nicht beginnen würde. Der Saal war riesig, und außer zwei älteren Menschen mit einem kleinen blondgezopften Mädchen war niemand da. Paul strich mit den Fingern über die rotsamtenen Wände und sagte: Die sind ja weich wie eine Decke.
    Langsam füllte sich der Saal. Benjamin betrachtete die Leute mit offenem Mund. Selbst nachdem das Licht gedimmt worden war und der Vorhang sich öffnete, starrte er unverhohlen auf die drei Jungen vor uns, die Popcorn aßen. Was auf der Leinwand geschah, interessierte ihn kaum, während Paul gebannt auf die Werbebilder blickte. Als der Film begann, merkte ich, dass Benjamin nicht nur gegen die Werbung, sondern gegen alles, was auf der Leinwand passierte, ziemlich immun war. Er blickte zwar ab und zu nach vorne, doch nicht mit derselben Aufmerksamkeit, wie er die Popcorn essenden Jungen, Paul oder mich anstarrte. Ich nahm seine Hand und zeigte nach vorn, wo Schneewittchen und die etwas blöde aussehenden Zwerge nebeneinander in ihren Bettchen lagen. Warum ist es denn so dunkel, fragte er laut. Damit man den Film sieht, antwortete ich, und Paul zischte: Psst. Auf der Leinwand erschien nun die böse Stiefmutter, ein lächerliches Abbild ihrer früheren Schrecklichkeit. Was ist das, ein Film?, fragte Benjamin nun flüsternd.
    Es war schließlich Paul, der die darauffolgenden Nächte nicht mehr schlafen konnte und mit heißfiebrigem Kopf aus Alpträumen erwachte. Es waren die Zwerge, die ihm Angst einjagten. Daniel sprach mich eine Woche später darauf an. Das ist doch nicht normal, sich vor Zwergen zu fürchten, sagte er, in seinem Alter. Nun ja, sagte ich, und dachte an die kleingewachsenen Gestalten im dreizehnten Stockwerk von Onkel Georgs Haus.
    Als ich eine Woche darauf wieder in die Holzerhurd fuhr, sah die kleine Wohnung Onkel Georgs aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Keine Sorge, ich räume auf, sagte Onkel Georg beschwichtigend. Ich habe immer gedacht, ich sollte endlich aufräumen, sagte er, stell dir vor, ihr müsstet nach meinem Tod meine Wohnung räumen, stell dir vor, dieses Puff . Ich ging auf die Erwähnung seines Todes und der damit verbundenen Unannehmlichkeiten für die Nachwelt nicht ein, da der Onkel Georg sich seinen Tod, seit ich denken kann, in den buntesten und düstersten Farben ausmalte. Dutzende von Büchern aus dem Regal lagen nun offen auf dem Sofa herum, und Onkel Georg schien zu überlegen, ob er die Amazonas-Indianer oder den Bildband über indische Elefanten eventuell entbehren könnte. Das Aussortieren ist immer so eine Sache, erklärte der Onkel Georg, man weiß nie genau, was einmal noch wichtig sein könnte. Schnaufend hob er einen Stapel Bücher vom Boden auf. Zuoberst lag ein in geblümtes Wachspapier eingefasstes Fotoalbum. Ich nahm das Album und setzte mich auf den einzigen Stuhl, der nicht mit Büchern belegt war.
    Wir hatten im Dorf unten gewohnt, erzählte Onkel Georg, unten im Dorf, aber das Dorf gibt es nicht mehr. Es wurde im Frühjahr 1937 geflutet. Ich kann mich nicht mehr an den Tag erinnern. Es gibt andere Stauseen und andere versunkene Dörfer, deren Kirchturmspitzen aus dem Wasser ragen. Von unserem Dorf aber stieß nicht einmal beim tiefsten Wasserstand die winzigste Kirchturmspitze durch die spiegelglänzende Wasseroberfläche und vergegenwärtigte die längst versunkene Welt, eine zwar kleinräumige, aber doch immerhin einst vorhandene Welt. Ich kann mich nicht an den Tag der Überflutung erinnern, sagte der Onkel Georg, und auch meine Erinnerung an die alte Welt, die nun unter Wasser liegt, besteht nur aus einer Mischung aus alten Fotos und den Erzählungen meiner älteren Schwestern und all der Älteren und Ältesten im Dorf. Komischerweise habe ich mir dieses vorherige Leben im versunkenen Dorf tatsächlich unter Wasser vorgestellt und unsere Familie und all die anderen Dorfbewohner als unter Wasser atmende, unter Wasser lebende Wesen, sagte der Onkel Georg. Dies wurde verstärkt durch die leicht verschwommenen Konturen der nachkolorierten Gesichtszüge der

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