Das weisse Meer
Mädchen auf den Fotografien, die mir viel schönere, um nicht zu sagen wässrigere Schwestern zu sein schienen als die richtigen trockenen .
Sorgfältig blätterte ich die dicken Seiten um und betrachtete die zwischen den sich fast auflösenden gelblichen Seidenpapieren eingeklebten Bilder. Es gab eine Kollektion von Fotografien der vier Mädchen, der älteren Schwestern Onkel Georgs, in einer der Größe nach treppenartig geordneten Reihe. Die Mädchen trugen alle dieselben, streng an die Kopfhaut geflochtenen Zöpfe, knielange gestreifte Kleider in verschiedenen Größen und weiße Kniestrümpfe und Lackschuhe. Sie lächelten entrückt, nur die zweitälteste, die meine Mutter war, blickte entschlossen, fast trotzig in die Kamera. Auf den früheren Mädchenbildern war auch die Mutter der Mädchen mit auf dem Bild, sie hatte ein gutmütiges, pausbäckiges Gesicht und kleine Augen. Der Vater war nur auf zwei Bildern zu sehen, er trug einen Anzug aus braunem oder grauem Cordstoff und lächelte gezwungen.
Ich blätterte einige Seiten weiter, die Mädchen wuchsen mit den fortschreitenden Seiten, und die Pausbacken verschwanden; es war Krieg. Auf einem Bild war auch Onkel Georg zu sehen. Er musste mindestens fünf Jahre alt sein, was hieß, dass er auf den vorherigen Mädchenbildern aus unerklärlichen Gründen weggelassen worden war. Onkel Georg saß mit gekreuzten Beinen schräg vor den stehenden Mädchen, wahrscheinlich ein Trick des Fotografen, die so gleichmäßig ansteigende Reihe der Mädchen nicht durch den viel zu groß gewachsenen kleinen Bruder zu stören. Der Onkel Georg blickte weder trotzig in die Kamera, noch lächelte er. Er blickte zur Seite, zum Bild hinaus.
Das alte Dorf war leer, als die Sirenen die Überflutung ankündigten, erzählte Onkel Georg. Die Menschen waren mit ihrem gesamten Hab und Gut frühzeitig in das Ersatzdorf am Hang gezogen. Vom früher üblichen Brauch des Verbrennens der Häuser und Bäume wurde abgesehen, es wurden auch keine Gebäude gesprengt, wie dies später bei den größeren Stauseen geschah.
Der älteste Sohn der Zinslis ist am selben Tag verschwunden. Er hatte angeblich auf dem Küchentisch des neugebauten Zinsli-Hauses im oberen Dorf einen Zettel hinterlassen, auf dem geschrieben stand: Ich bin nach Italien gegangen . Trotz oder gerade wegen dieses Briefs und weil er genau am Tag der Flutung verschwand und man nie wieder von ihm hörte, ging das Gerücht um im Dorf, er wäre vielleicht nochmals in das alte Dorf zurückgekehrt und versehentlich überflutet worden. Was man weiter munkelte, dass der älteste Zinsli-Sohn mit großen, fischartig aufgerissenen Augen im leeren Dorf unter Wasser weiterlebte, wurde für mich zur fixen Idee, die mich erschaudern ließ, wenn wir am Stausee standen und die flachen Steine über das Wasser hüpfen ließen.
Ich weiß nicht, ob es wegen des Zinsli-Sohnes war, sagte Onkel Georg, warum wir dachten, auf der anderen Seite des Stausees wäre Italien. Dies stimmte natürlich nicht, denn auf der anderen Seite des Sees waren genau dieselben Graubündner Dörfer wie auf unserer Seite, und Italien war woanders. Wir aber standen vor den frisch verputzten Häusern des neuen Dorfes, das den Einwohnern der gefluteten Gebiete von der Gemeinde als Ersatz zur Verfügung gestellt, ja geschenkt worden war, und blickten über den See, wo wir Italien glaubten. Mit dem Feldstecher suchten wir die Häuser und Bäume nach Unterschieden zu den hiesigen ab und fanden sie typisch italienisch. Außerdem hielt sich die Vorstellung, man könne über die große steinerne Staumauer am Ende des Sees auf dem direktesten Weg nach Italien laufen. Dieser Weg nach Italien wurde zur Mutprobe der Jungen im Dorf. Nicht die meine natürlich, meinte Onkel Georg, und lachte ohne Bitterkeit, ich konnte ja nicht einmal auf einer breiten Straße einen Fuß gerade vor den anderen setzen, geschweige denn hätte ich es mir zugetraut, über die schmale Staumauer zu balancieren, von welcher man je nach Höhe des Wasserspiegels drei bis zehn Meter tief in den See springen konnte, auf deren anderer Seite jedoch ein über sechzig Meter tiefer Abgrund lag. Der jüngere Zinsli-Sohn stürzte eines Nachts von der Mauer und lag mit zersplitterten Knochen und gespaltenem Schädel auf der anderen Seite. Weshalb er, im Moment des Gleichgewichtsverlustes, sich nicht in den See hat fallen lassen, der zu dieser Frühlingszeit Hochwasser führte, so dass einem geübten Schwimmer wie dem jungen
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