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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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Fernsehen? Onkel Georg hatte früher nie ferngesehen. Sie lügen, brachte er uns bei, die Menschen, die im Fernsehen sind, erzählen nur Lügen. Die Fernbedienung hatte er eines Tages, als mein Bruder und ich einmal mehr den ganzen Mittwochnachmittag Lügenfernsehen geschaut hatten, zum offenen Fenster hinausgeworfen. Die Fernbedienung überlebte den Sturz aus dem achten Stockwerk nicht, und seither musste man Onkel Georgs Fernseher am Gerät direkt einstellen. Manchmal kommen auch gute Sachen im Fernsehen, sagte Onkel Georg jetzt, manchmal bringen sie ganz interessante Dinge. Er blickte auf die tanzenden Abba-Kopien und machte den Fernseher aus.
    Mein Bruder und ich hatten uns immer wieder Boshaftigkeiten ausgedacht, die wir dem Onkel Georg antun wollten. Es schien uns unmöglich, dass Onkel Georg, obwohl er doch erwachsen war, gewisse Dinge, die wir mühelos konnten, nicht zu tun imstande war. Wir stellten ihm die einfachsten Rechenaufgaben und lachten, wenn er die falsche Lösung sagte. Ich war mir jedoch nie ganz sicher. Während mein Bruder mit Rechenkünsten prahlte, dachte ich immer, der Onkel Georg weiß insgeheim die Antwort. Ich dachte immer, der Onkel Georg tut nur so.
    Bei Geschicklichkeitsspielen wie Mikado konnte er nur verlieren, trotzdem war Onkel Georg sehr geduldig und spielte mit. Er verzog keine Miene, wenn die Stäbe immer und immer wieder unter seinen riesigen zittrigen Händen zusammenkrachten, aber uns wurde das Spiel schnell langweilig. Dann knüpften wir ihm die Schnürsenkel seiner Schuhe zusammen; aus Rache, dass er uns vor sich niederknien ließ, um ihm beim Schuhebinden zu helfen. Doch seit es diese Klebeschuhe gab, war das kein Thema mehr. Ein einziges Mal drehten wir die Wasserhähne im Bad und auch in der Küche mit aller Kraft zu. Und als wir im Bus nach Hause fuhren, stellten wir uns vor, wie Onkel Georg mit zahnpastavollem Mund im Badezimmer stand und den Wasserhahn nicht aufdrehen konnte, und wir konnten doch nicht lachen.
    An diesem Abend, kurz bevor ich ging, sagte Onkel Georg: Ich habe solche Schmerzen. Ich blickte ihn fragend an. Onkel Georg sprach nie über Schmerzen, obwohl er wohl welche haben musste wegen all der Gebrechen und Krankheiten, die auf seinem Krankenschein aufgeführt waren. Ich habe solche Schmerzen, sagte Onkel Georg, weißt du, nicht am Leib. Das Telefon klingelte, und Onkel Georg meldete sich sofort: Ja, Grüß dich, Elisabeth, sagte er freundlich. Nein, Waschmittel gibt’s hier noch reichlich. Er plauderte weiter über das schwüle Wetter und ob es noch ein Gewitter geben würde. Endlich legte er auf. Die Spitex-Hilfe, meinte er mit einem Schulterzucken. Alles nehmen sie einem weg, alles, und nichts bleibt übrig, sagte er. Sie tun immer so, sagte er, als wäre man blöd im Kopf. Die Elisabeth geht ja noch, aber die andere, Nicole heißt sie, die kommt immer und dann schmeißt sie alles weg, alles was ich habe. In den Müll, alles. Was, alles was du hast?, fragte ich verwirrt. Den ganzen Kühlschrankinhalt, meinte der Onkel Georg, weil die Sachen abgelaufen sind. Aber man kann die Dinge zumindest teilweise noch essen, sogar eine fast unangebrochene Salatsauce hat sie weggeworfen. Ach so, sagte ich, aber was ist mit den Schmerzen? Schmerzen, nein, so schlimm ist das nicht, meinte Onkel Georg. Dann begleitete er mich zur Tür.
    Nach diesem Mittwoch besuchte ich Onkel Georg einige Wochen nicht. Dies hatte aber nichts mit Onkel Georg zu tun, sondern mit den Kindern, genauer gesagt, mit Paul. Paul hatte einem anderen Kind auf dem Pausenplatz aus nächster Nähe und mit voller Kraft einen Stein an den Kopf geworfen. Der Junge wurde mit einer Gehirnerschütterung ins Spital gebracht, das leicht verletzte linke Auge sollte keine bleibenden Schäden davontragen.
    Ich sprach mit dem Rektor, mit dem Klassenlehrer und mit der Schulpsychologin. Paul war schwer davon zu überzeugen, dass er das Auge nicht mit Absicht getroffen hätte. Fisch, Fisch , habe der Junge ihm immer heimlich zugeflüstert, Fisch, Fisch . Der Junge habe gesagt, seine, also Pauls Augen unter den dicken Brillengläsern sähen aus wie die eines Fisches, erklärte er. Die Schulpsychologin, die bei Paul schon früher eine leichte Form von Autismus diagnostiziert hatte und meinen fehlenden Willen zur Kooperation, was hieß, zur Versetzung Pauls in eine Sonderschule, bemängelte, meinte einmal mehr, Paul sei nicht tragbar. Das geht doch nicht: Auge um Auge, Zahn um Zahn, sagte der Rektor. Er kann

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