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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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mühelos die Wurzeln der natürlichen Zahlen ausrechnen, warf der Klassenlehrer ein, er liest Astronomiebücher und erklärt die Entstehung der schwarzen Löcher im All. Fisch, Fisch , sagte Paul und weinte nicht. Fisch, Fisch , habe der Junge gesagt, Fisch, Fisch , hätten sie über den Pausenhof geschrien.
    Paul musste schließlich doch in eine andere Schule versetzt werden, weil er nachts aufwachte und schrie, Fisch, Fisch , schrie er. Und dann sagte er, wie die Kinder ihn nun nannten, nämlich Mörder. Er hatte wieder begonnen, ins Bett zu machen. Daniel war wieder da, zumindest häufiger, wir behielten aber noch beide Wohnungen.
    Die Nachricht, dass Onkel Georg, nur mit seinem Morgenmantel bekleidet auf der Feuertreppe, die auf das Dach des Hochhauses führte, gesehen und schließlich von der alarmierten Feuerwehr heruntergeholt worden war, erreichte mich zwei Monate später. Als ich ihn am Tag darauf, an einem Donnerstag, besuchte, äußerte er sich nicht zu dem Vorfall. Er benahm sich normal, aß das mitgebrachte Mandelgebäck. Ich erzählte nichts von der Sache mit Paul und dem Stein, und Onkel Georg fragte auch nicht, weshalb ich ihn die letzten Wochen nie besucht hatte. Stattdessen fragte er nach Daniel. Dein Mann, der Blonde, der auch auf der Beerdigung der Esther war, versteht ihr euch eigentlich gut? Ja, sagte ich. Wir hatten einige Probleme, aber man rauft sich wieder zusammen, auch der Kinder wegen. Ja, wegen der Kinder, wiederholte Onkel Georg. Was ist er eigentlich von Beruf, er ist bestimmt Sportler, so wie er aussieht, wie diese Tennisspieler im Fernsehen sieht er aus. Nein, sagte ich, Daniel arbeitet bei einer Versicherung. So, eine Versicherung, das ist gut, eine Versicherung kann man immer brauchen, sagte Onkel Georg. Er könnte mich also versichern, falls ich mal irgendwo hinunterfallen würde, nicht? Dann würde ich in ein schönes Krankenhaus kommen, und falls ich doch sterben sollte, würdet ihr wenigstens Geld kriegen für die Unannehmlichkeiten. Ach Georg, hör doch auf, du wirst nirgendwo runterfallen, meinte ich unwirsch. Es kann immer mal sein, dass einer versucht, nach Italien zu gehen, murmelte Onkel Georg. Bevor ich etwas erwidern konnte, wechselte er den Tonfall und fragte: Bringst du einmal deine Kinder mit? Das würde mich sehr freuen. Du solltest unbedingt mal die Kinder mitbringen, ihr seid ja früher auch immer gekommen, als Kinder, jeden Mittwoch.
    Daniel hatte die Prospekte für das Alters- und Pflegeheim organisiert, doch ich war es, die schließlich die Formulare ausfüllte und die Einweisung veranlasste. Onkel Georg sagte nichts dazu. Auch als wir seine Sachen in den Umzugswagen luden, um diese in das Pflegeheim Südblick etwas außerhalb der Stadt zu fahren, ließ er kein Wort des Vorwurfs hören. Für die Schrankwand war das neue Zimmer zu klein, aber das Bettsofa, den Tisch und die Bücher konnte er mitnehmen. In dem Heim, in dem meine Mutter untergebracht ist, können keine persönlichen Möbel mitgebracht werden, das ist schon toll, sagte Daniel, und Onkel Georg sagte: Ja, das ist toll.
    Ich hole dich bald ab, und wir gehen gemeinsam ins Kino, sagte ich. Es läuft E la Nave va , ergänzte ich, du magst doch Fellini. Ja, sagte Onkel Georg, Fellini. Ich fuhr mir mit dem Handrücken über die Augenlider und die Stirn, dabei schwitzte ich gar nicht. Benjamin sprang an Onkel Georg hoch und lispelte: Onkel Georg, Onkel Georg, wie groß sind deine Füße? Sieben Meilen groß, sagte Onkel Georg und lächelte.

Das weiße Meer
    Ich hatte den alten Mann schon eine Weile beobachtet, doch die Frau sah ich zum ersten Mal. Sie trug schwarze kurze Haare und hatte auffallend helle Haut und helle Augen. Wie meist, wenn ich abends von der Bibliothek nach Hause kam, stieg ich über meine am Boden sitzende, laut in einer mir unverständlichen, melodiösen Sprache ins Telefon schluchzende Mitbewohnerin und kletterte durch das Küchenfenster hinaus auf das Gerüst. Durch das feine grüne Netz, das um das Gerüst gespannt war, wirkten die Backsteinmauern und die in einen grauen Himmel rauchenden Schornsteine düsterer, als der Novemberabend in Manchester ohnehin war. Die Arbeiten an der Fassade waren nach der Auswechslung einiger maroder Sandsteine unterhalb der Fenster eingestellt worden, der Hausbesitzer war pleite. Aber das Gerüst war geblieben. Durch das offene Küchenfenster konnte ich Ella sehen, die sich das Telefonkabel um ihre nackten Zehen wickelte.
    Die Fenster der

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