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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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Zinsli bei einem Sprung bestimmt nichts Schlimmeres geschehen wäre, bleibt mir ein Rätsel, sagte Onkel Georg. Meine Schwestern behaupteten, dies sei etwas Ähnliches, wie wenn einem ein Honigbrot runterfällt, welches immer und ohne Ausnahme auf die bestrichene, klebrige Seite fällt; ein physikalisches Gesetz sozusagen. Ich, sagte Onkel Georg weiter, hatte an dieser Theorie meine Zweifel. Doch die Kinder und Jugendlichen unseres Dorfes liefen nach dem Tod des jüngeren Zinsli-Sohnes nicht mehr nachts über die große Staumauer nach Italien. Und von den Zinslis, denen innerhalb weniger Monate zwei Söhne abhanden gekommen waren, sprach man im Dorf nur noch im flüsternden Tonfall.
    An diesem Abend rief Daniel an. Ich saß am Schreibtisch, die Kinder spielten in ihrem Zimmer und waren erstaunlich ruhig. Ich bin’s, sagte Daniel, und ich erkannte seine Stimme zuerst gar nicht, er klang anders, schüchtern fast. Du bist aber wieder verwirrt, sagte er, was machst du denn, und ich sagte: Ich habe Onkel Georg besucht. Ach, der Georg, sagte er und fragte nach den Kindern. Die sind in ihrem Zimmer, sagte ich, soll ich sie holen? Nein, lass nur, sagte Daniel und fragte nichts weiter, und nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, fragte ich mich, weshalb er angerufen hatte. Einen Moment lang blieb ich still neben dem Telefon stehen und überlegte, ob ich nochmals zurückrufen sollte. Ich hob sogar den Hörer ab, lauschte auf den langgezogenen Ton. Dann legte ich wieder auf und strich mir über die heiße Stirn, als versuchte ich, eine Krankheit wegzuwischen. Wahrscheinlich wurde ich tatsächlich krank, auch Onkel Georg hatte gesagt, mein Husten klänge gar nicht gut.
    Ich löste mich aus der Erstarrung, machte den Computer aus und trat ins Kinderzimmer. Im Zimmer war es dunkel, nur das Nachttischlämpchen von Pauls Bett brannte, ein Bettdeckenhaufen lag auf dem Boden, darunter, kichernd, die Kinder. Was macht ihr denn?, fragte ich, worauf Pauls Kopf unter der Decke hervorlugte. Psst, du musst still sein, die Leute sind schon da, flüsterte er. Welche Leute? Psst, die Leute natürlich, die Leute, die den Film schauen wollen. Paul verschwand wieder unter der Decke. Die Decke bewegte sich, und ich hörte Benjamins glucksendes Lachen. Pauls Gesicht erschien erneut. Du kannst auch noch ins Kino, es gibt noch Tickets, aber du musst dich beeilen. Er hielt mir einen Papierschnipsel hin. Welcher Film läuft denn heute Abend?, fragte ich nun, da ich begriffen hatte. So ein Film halt, meinte Paul ausweichend. Ich kauerte mich neben Benjamin unter die Decke. Paul erhob sich nun, ging zur Tür und streckte den Leuten, die noch kamen, ihre Tickets hin. Beeilen Sie sich, bitte, der Film beginnt gleich, sagte er ungeduldig. Paul schloss die Tür, nahm die Lampe und drehte den Lichtstrahl auf die Wand vor uns. Dann kehrte er zurück unter die Decke. Benjamin atmete hastig und hörte auf zu kichern. Die kleinen Kinderkörper waren noch wärmer als meiner, obwohl ich zuvor gedacht hatte, ich hätte Fieber. Wir blickten durch einen Spalt unter der Decke hervor auf den Lichtkegel, der die körnige Tapete erleuchtete. Ich dachte, was Daniel wohl denken würde, wenn er jetzt vorbeikommen würde und uns sähe. Aber Daniel kam nicht. Niemand kam.
    Es wurde Sommer und in Onkel Georgs Wohnung unangenehm heiß. Onkel Georg hatte rote Flecken am Hals und kalten Schweiß auf der Stirn, aber er sagte, ich müsse mir keine Sorgen machen. Im Pflegeheim sterben sie jetzt alle wie die Fliegen, sagte er. Das Sterben ist bekanntermaßen ansteckend, auch ich würde an solch einem Ort sofort dahinsiechen, von diesem Todesgeruch.
    Onkel Georgs Tür war nie verschlossen, deshalb trat ich ein, ohne zu klingeln. Onkel Georg saß auf der Couch, sein Kopf war vornübergekippt und sein Mund leicht geöffnet. Im Fernsehen lief eine Art Hausfrauenversion von Abba, drei dickere Frauen in farbigen Tunikas mit breiten Puffärmeln, die ausladenden Hüften in glänzenden Strumpfhosen, sangen Dancing Queen , auf Deutsch. Tanzkönigin, sangen sie, du fühlst den Takt des Tamburins, dazwischen sah man das Fernsehpublikum, angegraute, Bier trinkende Männer und dicke Frauen, die im Takt in die Hände klatschten. Onkel Georg schnarchte leise. Als ich den Ton leiser stellten wollte, schreckte er auf. Ach, du bist es, sagte er, gut, ich dachte schon, es ist die Spitex-Hilfe oder die Physiotherapie, die lassen einen nie in Ruhe.
    Onkel Georg, sagte ich, seit wann schaust du denn

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