Das weisse Meer
Nachbarwohnung waren hell. Ich ging vorsichtig einige Schritte nach links, während ich mich an den eisigen Stangen festhielt. Ich war nicht schwindelfrei, zwischen den feuchten Brettern und der Hausmauer klaffte ein bauchbreiter Spalt. In der Mitte des Zimmers stand ein Holztisch, auf dem einige Zeitungen und Bücher lagen, daneben ein Teekrug und eine noch halb gefüllte Tasse. Eine Lampe mit einem Schirm aus geflochtenem Bast warf unterschiedlich große Lichtflecken an die Wände. An den Wänden waren einige gerahmte Fotografien angebracht, außerdem die Reproduktion eines Bildes von Pieter Breughel dem Älteren, eines dieser kleinformatigen, von verrückten Menschen überbevölkerten Bilder. Das Bild hing leicht schief.
Ich hatte den alten Mann schon länger beobachtet. Fast jeden Abend stieg ich über die am Boden sitzende, mit ihrer Mutter oder Schwester oder Tante in Russland telefonierende Ella hinaus auf das Gerüst und betrachtete den alten Mann im Nachbarfenster. Der alte Mann saß am Tisch, sein weißer Haarkranz leuchtete im Licht der Lampe. Er las, trank Tee oder aß ein Butterbrot. Oder er tat gar nichts. Einmal hatte er die Hände auf dem Tisch gefaltet und seinen alten Kopf darauf gelegt. Ich wusste nicht, ob er betete oder ob er weinte oder nichts von beidem. Sonst sah ich ihn kaum. Nur wenn ich ihn zufälligerweise vor der Wohnungstür traf, er mir kurz zunickte, dann hastig die Tür aufschloss und verschwand. Ella, die mehr mit den Leuten redete als ich, erzählte, dass der alte Mann aus Odessa, einer Hafenstadt am schwarzen Meer, in der heutigen Ukraine stammte. Als sie ihn aber einmal auf Russisch angesprochen habe, so Ella, habe er getan, als würde er sie nicht verstehen, und ihr höflich auf Englisch geantwortet.
H. Samuel stand kaum mehr leserlich hinter dem bräunlichen Glas, eines der ursprünglichen Namensschilder, die anderen waren meist überklebt mit handgeschriebenen oder gedruckten Namen. Deswegen nannten Ella und ich den alten Mann Mister Samuel, wenn wir über ihn sprachen, wir sprachen aber selten über ihn. H. SAMUEL stand in großen Lettern auf der lamellenartigen Rückwand des leerstehenden Teils eines Einkaufscenters inmitten Manchesters, das E von SAMUEL war herausgebrochen. Als ich die Schrift zum ersten Mal sah, geriet ich in helle Aufregung, als hätte ich etwas Ungeheuerliches entdeckt. Dann begriff ich aber, dass H. SAMUEL ein Schmuckgroßhandel war, der Filialen in allen Einkaufszentren Manchesters und Englands besaß und kitschige Verlobungsringe mit falschen Diamanten und Anhänger mit Herzen oder Kreuzen verkaufte.
Ich verlagerte das Gewicht etwas nach links, damit ich den Rest des Raumes sehen konnte. Der alte Mann lag auf der Couch. Die Frau wandte mir den Rücken zu. Sie rieb eine gelbliche Salbe auf seine mageren Waden. Der alte Mann hatte die Augen geschlossen, obwohl die Frau mit ihm zu sprechen schien. Sie könnte seine Tochter sein, dachte ich, oder eher die Enkelin. Wie sie die Salbe auf die mageren Beine des alten Mannes strich, wirkte zärtlich, beinahe rührend. Ich hätte gerne gehört, was die Frau sagte, doch das Fenster war geschlossen. Die Frau im Fenster trug eine hellblaue, kurzärmelige Bluse und einen dunklen Rock, sie hatte eine knabenhafte Figur. Sie sah aus wie Leo. Vielleicht, so stellte ich mir vor, hatte sie sich früher mit ihrer Freundin vor dem Spiegel verkleidet, die Freundin, mädchenhafter und runder, sah etwas lächerlich aus im Smoking und mit dem angeklebten Schnurrbart. Die Frau im Fenster, so dachte ich, als ich auf dem Gerüst kauerte und rauchte, trug ein hellblaues Männerhemd und eine schwarze Hose, ihr damals noch langes Haar hatte sie unter einer Schirmmütze versteckt. Sie mussten beide erschrocken sein, sie und ihre Freundin, als sie vor den Spiegel traten. Ihre leicht gekrümmte Nase im sommersprossigen Gesicht, die schwarzen Haare unter der Mütze, die ungeschminkten blassblauen Augen, selbst die herabfallenden Schultern im zu großen Herrenhemd, das ganze Auftreten ließ nichts Weibliches mehr vermuten. Vielleicht sagte sie nach einem Moment der Unruhe lächelnd zu ihrer Freundin, die sie fassungslos anstarrte: Ich sehe aus wie mein eigener Bruder, dabei habe ich gar keinen Bruder.
Ich drückte die Zigarette auf der nassen Holzplanke aus und warf sie in die Dunkelheit. Plötzlich zuckte ich zusammen, da mich etwas am Bein berührte. Ellas dicke Katze schmiegte sich an meine Unterschenkel. Ich trat unwillkürlich
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