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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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hellem Tag, jedoch meist bei Nacht, das fiel am wenigsten auf. Ich kam mir vor wie in dem Film von Carol Reed, Odd Man Out , nur wusste ich nicht, ob ich der verwundete, sich durch eine düstere irische Stadt schleppende Verbrecher Johnny McQueen oder die ihn in den dunklen verschneiten Gassen suchende, wunderschöne Geliebte wäre. Doch die Gassen waren nicht dunkel, sondern von Straßenlaternen und leuchtendem Weihnachtsschmuck erhellt, sie waren nicht leer, sondern voller Menschen, manchmal traf ich jemanden oder wurde erkannt und erschrak, aber nur für einen Moment. Denn ich fand immer eine Ausrede. Einmal sah ich sie tatsächlich, sie fuhr mit dem Fahrrad an mir vorbei und sah mich nicht oder sah mich und blickte an mir vorbei, und da ich auch an ihr vorbei blickte, wusste ich nicht, ob es tatsächlich Leo war oder nur eine Verwechslung. Leo rief nicht an. Nach drei Wochen schickte ich ihr eine Postkarte mit dem Bild eines zugefrorenen Meeres, Archangelsk stand in kyrillischer Schrift darunter, die Karte hatte ich auf dem Flohmarkt gefunden. Ich habe einmal geträumt, ich sei in Archangelsk, ohne zu wissen, wie Archangelsk ist, schrieb ich. Und: Es muss ja nicht unbedingt Archangelsk sein. Kommst du Samstag zum Konzert? Ich schrieb den Namen und die Adresse auf die Karte und warf sie in einen Briefkasten.
    Nach vier Tagen in Manchester fuhr ich weiter. Eine Schwester meiner Mutter und ihr Mann wohnten im Süden Schottlands, in einem winzigen Dorf, das aus einer Straße, einer Querstraße und einem Pub bestand. Mein Onkel holte mich am Bahnhof ab, der kein Bahnhof, sondern nur ein einziges Gleis war. Damit die in beide Richtungen fahrenden Züge nicht kollidierten, überreichte der Bahnhofsvorstand dem Zugführer eine Tasche, die dieser an der nächsten Station dem Bahnhofsvorstand gab. Dieser gab die Tasche dem Lokführer, der in die andere Richtung fuhr, der nun wusste, dass das Gleis frei war. Meine Verwandten freuten sich über den Besuch. Sie hatten mich das letzte Mal als Kind gesehen, ich konnte mich kaum erinnern. Warum ich gerade im Februar gekommen war, war ihnen unverständlich, und ich musste versprechen, einmal im Sommer wiederzukommen. Nach dem Abendessen ging ich ins Bett oder schaute mit meinem Onkel fern; der mit einem mir unverständlichen schottischen Akzent sprechende Moderator ließ leichtgläubige Menschen glauben, ein impressionistisches Landschaftsbild oder ein Schrankungetüm aus dunklem Massivholz, Erbstücke ihrer Großeltern, seien von großem Wert. Dann ließen sie die vermeintlichen Antiquitäten von Experten schätzen und wurden meist enttäuscht. Tagsüber ging ich spazieren. Ich fuhr mit einem Bus, der nur mich und einige alte Frauen beförderte, an den äußersten Zipfel der Halbinsel und lief über dreiundzwanzig Äcker zurück zum Dorf. Auf der linken Seite fielen die von gelbem Moos bewachsenen Felsen steil ins Meer ab. Ich traf keinen Menschen, nur eine Schafherde rannte von mir weg, über den Horizont hinaus.
    Nach einer Woche beschloss ich, nach Manchester zurückzufahren. Du kannst bei Ella wohnen, meinte mein Onkel. Ella war das frühere Au-pair-Mädchen meiner Verwandten, an der Wand hing ein Foto von ihr mit einer Katze im Arm. Ella’s cat is the biggest cat you’ ve ever seen, sagte mein Onkel. Die Katze war tatsächlich riesig und hatte eine langgezogene Nase, was sie alles andere als niedlich aussehen ließ. Ella schaute ernst in die Kamera, sie hatte ein breites Gesicht mit hohen Wangenknochen, das dichte schwarze Haar verdeckte ihre dunkel geschminkten Augen zur Hälfte. Sonst gab es mehrere Fotos der drei Kinder meiner Verwandten, rotschöpfige sommersprossige Kinder auf Schaukeln sitzend oder auf Ponys reitend, die nun auch älter waren und in London oder in Lancaster studierten und die ich auch früher kaum je gesehen hatte.
    Ella holte mich in Manchester am Bahnhof ab. Ich hastete neben ihr her durch das hinter der Victoria Station liegende Viertel. Ellas Wohnung lag in einem Backsteinhaus in einer engen, dunklen Straße. Die Wohnung war geräumig, aber spärlich eingerichtet. Ein Zimmer stand leer. My boyfriend moved out one month ago, so I’ve got a lot of space, sagte Ella und lachte. You can move in here, if you want, sagte sie, nachdem wir uns gerade mal eine Viertelstunde kannten. Nach weiteren fünf Minuten sagte ich Ja, ließ meinen Rückflug verfallen und blieb.
    Für einige Tage vermied ich es, auf das Gerüst zu klettern, um die Frau im Fenster

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