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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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zu beobachten. Als ich nachmittags das Haus verließ, traf ich den alten Mann im Treppenhaus. Ich grüßte ihn, getraute mich aber nicht, ihn mit seinem Namen anzusprechen, da ich diesen ja nur von seinem Klingelschild kannte. Ich hätte wortlos an ihm vorbeigehen können, doch dies erschien mir unhöflich, also ging ich, einen Fuß vor den anderen setzend, hinter ihm die Treppe hinunter und blickte auf den Hut, der seinen kahlen Hinterkopf bedeckte. Wir sprachen nicht miteinander, ich hätte ihn fragen können, ob er etwas mit dem Schmuckgroßhandel H. SAMUEL zu tun habe, aber das hatte er bestimmt nicht, so why would I live in this filthy building, hätte er vielleicht geantwortet, aber der alte Mann antwortete nichts, da ich ja nichts gefragt hatte, er atmete nur leicht keuchend. Ich hielt ihm die Haustür auf, da blieb er stehen und sagte: Go on, Madame, it’s better if they don’t see us together. Ich blieb einen Moment stehen und starrte ihn perplex an. Er legte einen Finger vor den Mund und sagte: Psst, they are everywhere. Even if you don’t see them, they are there. Schnell ging ich zur Tür hinaus.
    Ich habe deine Nummer gelöscht, sagte Leo. Sie sagte nicht: versehentlich. Ich überlegte, dass ich darauf etwas sagen sollte, doch mir fiel nichts ein. Hast du was zu trinken da, sagte Leo anstelle einer Erklärung, und ich meinte: Apfelsaft gibt es, vielleicht auch Bier, und sie sagte: Apfelsaft und öffnete den Kühlschrank. Sie goss den Rest der Flasche in ein Glas und trank es in einem Zug leer. So, sagte sie und stellte das Glas hin. Was ist eigentlich mit Archangelsk? fragte sie dann. Was soll mit Archangelsk sein, sagte ich leicht trotzig, keine Ahnung, wie Archangelsk ist. Tja, wir können ja mal hinfahren, meinte Leo, schauen, wie es da ist.
    Ich lief stadtauswärts, mit eingezogenen Schultern. Unter dem roten Backsteinbogen der Bahnbrücke hindurch führte ein Tunnel, in dem die Menschen eng an mir vorbeihasteten. TRAFFIC DELAY stand auf einem Schild. Die Farbe des Himmel wechselte von einem dreckigen Weiß ins Grünliche, die Luft war schwer von vergangenem und zukünftigem Regen. Vor mir ging eine Frau in einem hellen Trenchcoat. Ich stellte mir vor, ich hätte ein Ziel, einen Bahnhof, ein Zuhause am Stadtrand, eine Einladung bei Freunden. Direkt an der Straßenkreuzung stand eine Kirche, riesenhaft, mit barocken Türmchen. Ich könnte die Kirche besichtigen, dann würde ich nicht so blöde dieser Frau hinterhergehen, dachte ich. Die Kirche war mit Stacheldraht eingezäunt, THIS PROPERTY IS UNDER SURVEILLANCE stand alle fünf Meter an dem Zaun und der Name einer Sicherheitsfirma. Neben mir rasten die Autos stadtauswärts. Als die Frau die Straße überquerte und auf der anderen Seite in eine Gasse zwischen Backsteinhäuschen einbog, blieb ich auf meiner Seite. Der Himmel verfinsterte sich zusehends, und da kein Bahnhof, kein Zug, keine Einladung auf mich wartete, kehrte ich schließlich um. Ich überlegte nur kurz, bevor ich auch in die enge Gasse zwischen den zweistöckigen Backsteinhäuschen, in der die Frau verschwunden war, einbog. Cat’s Walk hieß die Gasse, doch keine Katze war zu sehen und auch kein Mensch. Die Autos parkten vor den braun- oder grünglänzend gestrichenen Bretterzäunen, die das vor den Backsteinhäuschen liegende quadratische Stück Rasen oder den geteerten Vorplatz verdeckten. Hier hing eine Hollywoodschaukel, da ragte ein Trampolin empor, die Gummifläche meterhoch eingezäunt, damit die hüpfenden Kinder ihre Köpfe nicht auf dem geteerten Platz aufschlugen. Aber an diesem regnerischen Winterabend hüpften keine Kinder auf den Trampolins; hinter den Jalousien, wo die Familien beim Abendbrot sitzen sollten, brannte kein Licht, die Häuser wirkten verlassen. Vielleicht wohnt hier keiner mehr, dachte ich, oder ist dies nur eine Modellvorstadt, mit Modellhäuschen, Modellvorgärten, FOR SALE oder TO LET, alles, sogar die Modelltrampolins wurden aufgestellt, damit es lebendiger wirkte und man sich die hüpfenden Kinder zumindest vorstellen konnte.
    Als ich zwischen den Einfamilienhäuschen wieder zurückging, sah ich doch noch jemanden, eine Frau mit langen roten Haaren und einem grünen Mantel mit einem Kind an der Hand. Auch das Kind trug ein Mäntelchen und hatte weiße Haut und hellaufgerissene Augen. Doch dies war nur ein Bild aus einem Traum oder einem Film, das an diesem Winterabend in Manchester im Nebel auftauchte und sich vor meine Erinnerung schob.
    An den

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