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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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Kaffee, fragte ich und versuchte, verschlafen zu klingen. Ich muss eigentlich gleich los, meinte sie. Ich ging in die Küche, wusch die Espressokanne aus, füllte sie, schraubte sie zu und stellte sie auf den Gasherd. Leo stand in der Küchentür. Sie nahm nun doch die Kaffeetasse, die ich ihr reichte, ohne sich zu setzen, schüttete sie drei Löffel Zucker in den Kaffee und trank ihn in schnellen Schlucken aus. Ich ruf dich an, sagte sie.
    Ich wusste von Beginn an, dass es ein Fehler war, nach Manchester zu gehen, dass es überhaupt ein Fehler war, anzunehmen, es könnte woanders besser sein. Da Manchester aber auch nach fast einem Jahr noch ein Provisorium war, und ich glaubte, jederzeit wieder gehen zu können, fand ich mich damit ab. Ich fühlte mich weder zu Hause noch wurde ich von quälendem Heimweh heimgesucht wie Ella, die fast jeden Abend mit ihrer Mutter oder Großmutter oder einer ihrer Schwestern in Russland telefonierte, und dann weinte, aus Heimweh oder aus einem als Heimweh getarnten, komplizierteren Schmerz.
    Im Februar vergangenen Jahres war ich zwischen einem Dutzend Skitouristen, Ehepaaren und mageren rothaarigen Jungen mit abstehenden Ohren und von Sommersprossen übersäten Gesichtern in farbigen Skianzügen, aus dem Flugzeug auf einen Flugplatz getreten, Windböen zerzausten mir das Haar. Die Hotelzimmer lagen über einem chinesischen Restaurant, der Essensgeruch drang von den mit schwarzem Öl verrußten Lüftungen durch das Hinterhoffenster in mein Zimmer. Das Zimmer bestand aus einem Bett, einem Fernseher und einem Schrank. Ein Tisch war nicht vorhanden.
    Die nächsten Tage lief ich ziellos durch Manchester, von einem Einkaufszentrum zum nächsten, wie mir schien, und ließ mich treiben vom Strom. Eine Woche zuvor noch war ich durch den Plänterwald gelaufen, es regnete und die kahlen Bäume boten kaum Schutz. Zwischen dem nassen Laub ragten erste hellgrüne Bärlauchspitzen hervor, doch der Frühling war noch weit und die Kälte bitter. Wie immer lief ich bis zum sogenannten Hexenhäuschen, wo ich umkehrte und nun im Schritttempo zurückging. Das Wasser war schlammiggrün, und die Fabriken auf der anderen Spreeseite versanken im Nebel. In Manchester regnete es auch. In einem Kaffeehauskettencafé trank ich einen riesigen Cappuccino, mit zu viel Karamellsirup, der den unteren Teil des Getränks untrinkbar süß machte. Neben mir unterhielten sich zwei sorgfältig geschminkte Italienerinnen über ihre Jobs und über andere Italienerinnen in Manchester. Alle hatten sie einen Plan, so kam es mir vor, einen Plan für Liebe, Arbeit und Geld, während mir alles zu entgleiten drohte.
    Was ist denn mit dir los, fragte Ella, als ich zum Küchenfenster hineinkletterte. Sie erwartete keine Antwort, sondern streichelte die Katze und stocherte, zur Radiomusik vor sich hin summend, mit einem Kochlöffel im Gemüse herum. Magst du auch was essen?, fragte sie und füllte mir einen Teller, bevor ich antworten konnte. Sie kippte alle herumstehenden Gewürze auf das Gericht auf ihrem Teller und begann zu essen.
    Ich wohnte nun schon seit über einem Jahr mit Ella in der kleinen Wohnung. Ella war breit gebaut und hübsch, sie hatte lange kastanienbraune Haare und ein ovales, ebenmäßiges Gesicht. Sie studierte Kunst und arbeitete nebenher in einem Friseursalon, in dem sie jedoch keine Haare schneiden durfte, sondern nur dafür zuständig war, die Haare zu waschen und die abgeschnittenen, noch feuchten Haarschnipsel vom Boden aufzufegen. Abends schaute sie Fernsehserien auf ihrem Computer oder telefonierte. Heute war es mal wieder langweilig im Salon, erzählte Ella, nur zwei alte Frauen waren da, die sich ihre gelblichen Haare violett färben ließen. Immer dieses Violett, sagte sie, und sie denken, es sei grau, ich werde das nie verstehen. Ich hörte Ella gerne zu, sie besaß eine dunkle Stimme und einen ungewöhnlich vokalischen Akzent im Englischen und fragte mich jeden Abend, ob ich einen guten Tag gehabt hätte, erwartete aber keine Antwort. Sie schenkte mir kleine Dinge, die mir nicht gefielen, wie eine rosa Hello-Kitty-Haarbürste oder eine Kerze mit einer stilisierten mexikanischen Madonna darauf. Ich fand es angenehm, dass Ella mich nicht verstand, dass sie, wenn ich in der hellsten Aufregung war, fragte, ob wir uns einen Staubsauger anschaffen sollten, oder dass sie, nachdem ich einen Tag lang mit blinden Augen durch die regnerische Stadt gelaufen war, nichts weiter nachfragte, sondern begann, von

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