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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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came to Archangelsk?
    Wir unternahmen nicht viel in Archangelsk, wir liefen dem Ufer der Dwina entlang und saßen abends in einer sogenannten Jazz-Bar, die uns empfohlen worden war. Außer uns war nur ein einziger Gast in dem dunklen Raum, der seinen Kopf auf den Tisch gelegt hatte und schlief, zwei blonde Serviererinnen schauten gelangweilt zu, wie Britney Spears im russischen MTV herumhüpfte.
    Auf einem stillgelegten Schiff am Ufer der Dwina fand eine Party statt. Sechzigjährige Schweden tanzten mit sehr jungen, leichtbekleideten russischen Mädchen, sonst war nicht viel los. Wir tranken einen Wodka nach dem anderen und warfen die Gläser hinter uns ins Wasser. Auch der Barkeeper sagte, dass man nicht ans Weiße Meer fahren könne, es sei militärisches Sperrgebiet. Die angetrunkenen Männer musterten uns, und wie um irgendwem, mir, diesen Männern oder auch nur sich selbst etwas zu beweisen, legte Leo mir die Arme um die Schultern und küsste mich kurz und heftig. Dann ließ sie mich los und sagte: Scheiße hier, lass uns gehen.
    Am nächsten Tag aßen wir Blini in einem Einkaufscentercafé, in dem farbige Ballons von der Decke hingen. Ich kann diesen Pfannkuchenkram nicht mehr sehen, sagte Leo. Was willst du eigentlich von mir, fragte sie später, als wir am Ufer der Dwina entlanggingen. Ich sagte nichts. Die Sonne stand hinter dem Rauch der schwarzen Türme einer Fabrik am Horizont, das Wasser des Flusses erschien fast weiß in ihrem Licht.
    Ella und ich fuhren nicht nach Archangelsk. Stattdessen flog ich nach Hause zur Beerdigung meines Großvaters. Als ich nach Manchester zurückkam, war das Gerüst verschwunden, die Hausfassade gestrichen und die Miete hochgesetzt. Ich sah die Frau nicht mehr, weder im Fenster noch sonst irgendwo. Auch den alten Mann sah ich nicht. Ella erzählte mir schließlich, dass er sich umgebracht hatte. Er habe sich abends unter sein Bett gelegt und sich mit einem alten Jagdgewehr eine Kugel durch den Kopf geschossen. Zuvor habe er sich den Kopf einbandagiert. Die Art seines Todes beschäftigte mich noch lange. Ella sagte, er habe dies wohl getan, um ein Blutbad zu vermeiden, deshalb habe er sich auch unter das Bett gelegt. Es habe auch niemand im Haus den Schuss gehört. Ella, die mehr mit den Leuten sprach als ich, sagte auch, der alte Mann habe außer einer Nichte oder Großnichte, die in einem Vorort von Manchester lebe, keine Angehörigen in England. Sie habe sich überlegt, zur Beerdigung zu gehen, hätte sich dann aber doch anders entschieden.
    Ich sah die Frau doch noch einmal, im Treppenhaus, aber ich wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen. Sie war kleiner, als ich gedacht hatte, und trug einen hellbraunen Trenchcoat. Sie hatte keine Ähnlichkeit mit Leo.
    An unserem letzten Abend in Archangelsk ging es Leo nicht gut, sie musste sich mehrfach übergeben. Nur widerwillig erzählte sie mir, dass sie von diesen roten giftigen Beeren gegessen hatte. Ich wollte einen Arzt rufen, doch sie winkte ab. Geh du nur raus, sagte sie, ich hab schon ganz andere Sachen überlebt. Ich setzte mich in das Restaurant im Hotel. Ich trug ein schwarz-weiß gepunktetes Kleid und hatte mir die Lippen rot geschminkt. Auf der Speisekarte standen die Gerichte auf Russisch und auf Französisch, ich bestellte etwas, was mir bekannt vorkam. Der Kellner brachte ein winziges Schälchen mit Shrimps in Cocktailsauce und sagte, eine übertriebene Geste mit der Hand vollführend, in umständlichem Französisch den Namen des Gerichts. Ich zeigte mit dem Finger auf drei andere Speisen auf der Karte, die der Kellner mit derselben Geste vor mich hinstellte, er hielt die eine Hand auf dem Rücken und vollzog mit der anderen eine Kreisbewegung. Ich hatte keinen Hunger. Ich bestellte Rotwein. Am Nebentisch saß eine Gruppe Franzosen, die mich unverhohlen anstarrten. Leo schlief, als ich zurückkam.
    Wir fuhren mit dem Zug zurück über Sankt Petersburg und Moskau weiter nach Warschau. Leo schlief die ganze Zeit oder sie stellte sich schlafend. In Warschau entschied sie sich, noch einige Tage zu bleiben, sie habe Verwandtschaft da. Ich fragte mich, weshalb sie nie etwas davon erzählt hatte, fragte mich, was ich überhaupt wusste über Leo.
    Im Zug nach Berlin traf ich ein älteres Ehepaar, der weißhaarige Mann blickte aus dem Fenster auf die polnischen Wälder, die alte Frau hielt immer wieder seine Hand. Als die beiden mich auf Englisch fragten, wo der Speisewagen sei, meinte ich, ich wolle diesen ohnehin auch

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