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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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darauffolgenden Tagen war die Frau im Fenster verschwunden. Der alte Mann saß alleine am Tisch und hielt die Hände gefaltet. Nach einer Weile erhob er sich und rückte vorsichtig das kleine Bild an der Wand gerade.
    Ich setzte mich vor unserem Küchenfenster auf die Bretter. Lange saß ich in der frühabendlichen Dunkelheit und tat nichts. Nach einiger Zeit öffnete sich das Fenster, Ella streckte den Kopf hinaus und sagte: Willst du erfrieren. Sie hievte ihren schweren Körper über das Fensterbrett und setzte sich neben mich. Sie steckte sich zwei Zigaretten in den Mund, zündete sie an und reichte mir eine davon. Ella hatte eigentlich vor fünf Tagen aufgehört zu rauchen, sie machte Kreuze in den Kalender in der Küche. Ella rauchte und erzählte dann, dass sie im Friseursalon entlassen worden war. Sie hatte die zusammengekehrten Haare nicht weggeworfen, sondern sie in einer Plastiktüte gesammelt und mitgenommen. They think I would make some kind of vodooo-stuff with it, sagte Ella und lachte. Ich fragte sie nicht, warum sie die abgeschnittenen Haare gesammelt hatte. Lass uns nach Archangelsk fahren, meinte Ella, ich habe jetzt viel Zeit. In Archangelsk gibt’s nichts, sagte ich, klaubte die Zigarettenstummel zusammen und stieg durch das Küchenfenster ins Helle.
    In dieser Nacht träumte ich von Ellas Eltern am Strand von Archangelsk, sie hielten sich an den Händen, der Vater war ein großer, kräftiger Mann mit schwarzem Haar, Ellas Mutter war kleiner und trug ein langes weißes Kleid, sie blickte in die Kamera und machte eine Bewegung mit dem einen Fuß, als würde sie zu tanzen beginnen. Ella hatte mir nie Fotos von ihren Eltern gezeigt, ich wusste nicht, ob es welche gab. Die Fotografie, von der ich träumte, war schwarzweiß.
    Zweiundzwanzig Stunden hatte die Fahrt mit dem Zug von Sankt Petersburg nach Archangelsk gedauert, durch lichte Birkenwälder und endlose Felder. Ich hätte nicht gedacht, dass Leo die Sache ernst nehmen würde. Immer wieder hielt der Zug an einem verlassenen Bahnhof, auf dem Bahnsteig verkauften alte Frauen Teigklöße gefüllt mit Kartoffeln. Wir waren zu dritt im Abteil. Eine Frau namens Alija lag wie ein dicker gestrandeter Wal auf ihrem Bett und schlief. Wenn sie nicht schlief, unterhielt sie sich mit mir über den Stalinismus. Ich konnte einige Wörter und Wendungen Russisch, noch von der Schule, das meiste hatte ich jedoch vergessen. Unter Stalin sei es noch besser gewesen in Archangelsk als jetzt, viel mehr begriff ich nicht von dem, was sie erzählte. Oder sie ging mit Leo rauchen, während ich auf das Gepäck aufpasste. Sie ging lieber mit Leo rauchen als mit mir, obwohl Leo kein Wort Russisch verstand. Die Frau dachte aber, Leo sei nur schüchtern, und fand dies angenehm. Nur als Leo zum Mittagessen Schwein bestellte – dieses eine Wort, Schwein, kannte die Frau auf Deutsch – und das Fleisch, einen gräulichen Klumpen in einer Aluminiumschale schließlich nicht anrührte, konnte sie dies nicht verstehen. Ich bestellte Fisch und aß diesen höflich auf. Überhaupt nicht verstehen konnte die alte Frau namens Alija, weshalb wir nach Archangelsk fahren wollten. In Archangelsk gibt es nichts, wiederholte sie mehrmals, nitschewo .
    In Archangelsk gab es ein paar Einkaufszentren, Kosmetiksalons, Telefonshops und übriggebliebene Leninstatuen. Zwischen hohen Plattenbauten führten ungeteerte Straßen zu kleinen Holzhäuschen, zwischen Bäumen mit giftroten Beeren. Der Strand von Archangelsk war nicht der Strand des Weißen Meeres, sondern nur das Ufer des Flusses Dwina, der vierzig Kilometer weiter ins Weiße Meer mündete. Die Strandbars waren mit dickem halbdurchsichtigem Plastik verkleidet, da es zu kalt war im August und zu windig, um im Freien zu sitzen.
    Dann lass uns eben ans Weiße Meer fahren, meinte Leo, es wird hier schon ein Schiff geben. Der Schiffsbahnhof war weiter unten an der Dwina, Архангельск stand in großen Lettern auf dem Dach. Ich fragte die Frau im Kassenhäuschen nach einem Schiff ans Weiße Meer. Njet, sagte sie, auch als ich nach morgen, übermorgen oder der nächsten Woche fragte, kein Schiff fuhr ans Weiße Meer, die Frau sagte: njet, und schüttelte den Kopf. Ans Weiße Meer könne man leider nicht fahren, erklärte auch die Frau im Tourismusbüro. Zu den Solowezki-Inseln gäbe es geführte Touren, da könnten wir das Kloster besichtigen, die Holzhäuschen und die schöne Natur, und als wir ablehnten, fragte sie: But what for you

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