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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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ihrem Tag im Friseursalon zu erzählen.
    Nach dem Essen setzten wir uns hinaus auf das Gerüst und tranken Rotwein. Wir redeten über Ellas Liebhaber und überlegten, wo wir hinfahren würden, raus aus Manchester. Wir wählten die Städte aufgrund ihrer Namen, nach Triest wollten wir fahren, nach Sarajevo und Sofia, nach Irkutsk. Nach Archangelsk, sagte Ella an diesem Abend, wir fahren nach Archangelsk. Ich habe einmal geträumt, ich sei in Archangelsk, ohne zu wissen, wie Archangelsk ist, sagt der Zirkusdirektor in der Macht der Gewohnheit . Und ich kenne nichts als Archangelsk, das ist es, sonst nichts. Und da glauben sie, weggehen zu können?
    Ich ließ mir nichts anmerken. Weshalb gerade Archangelsk, fragte ich dann. Archangelsk ist schöner Name, meinte Ella, außerdem hätten sich ihre Eltern da kennengelernt. In Archangelsk hätten sich ihre Eltern zum ersten Mal geküsst, so Ella, in Archangelsk, am Strand des Weißen Meeres. Nach Archangelsk, nach Archangelsk, wiederholte Ella an diesem Abend immer wieder, wie ein geheimes Mantra. Morgen Augsburg, sagt der Zirkusdirektor, morgen Augsburg, ein Fluch.
    Als ich ankam in Manchester, lief ich durch die Great Bridgewater Street und den Kanal entlang, links die alten Fabriken, riesige Gebäude aus rostrotem Backstein, auf der anderen Seite des Kanals wurden neue Häuser gebaut, auch aus rotem Backstein, aber mit riesigen futuristisch anmutenden Glasbalkonen. Eine Brücke mit grünem Geländer führte auf die andere Seite. Ich lief am Ufer des Kanals entlang, es gab kein Geländer, der Kanal lag tiefschwarz und schwer das Wasser; wenn einer hineinfiele, dachte ich, er würde sofort hinuntergezogen, hinab ins Schwarz. Aber weshalb sollte einer hineinfallen, weshalb sollte einer einen Schritt zur Seite tun oder auch nur versehentlich ausgleiten auf dem nassen Stein? Alles schien zum Verkauf zu stehen in Manchester, überall, selbst an den verfallenen Häusern mit zugenagelten Fenstern hingen Schilder: FOR SALE, in den hellen Schaufenstern der Immobilienmakler hingen Fotos von Backsteinhäusern und Wohnungen mit hellem Laminatboden, Einbauschränken und künstlichem Kamin.
    HOW DID YOU SLEEP LAST NIGHT?, stand im Schaufenster eines Bettengeschäfts, ein Spruch, der als Werbung für Matratzen gar nichts Unheimliches an sich hatte, mir aber traten die Worte zu nahe, sie sprangen mich an, aus dem Hinterhalt. Ich war früh ins Bett gegangen am Vortag, viel früher als gewohnt, doch ungefähr um zwei Uhr morgens war ich aufgewacht, nassgeschwitzt und frierend wie im Fieber. Durch den Spalt der schweren grünen Vorhänge sah ich das Licht der Straßenlaternen im rußigen Fenster, und es war nicht so, dass mir nicht sehr schnell bewusst wurde, wo ich war. Nur hatte ich einen Moment vergessen, woher ich kam und was geschehen war, überhaupt alles.
    Am nächsten Tag beeilte ich mich, von der Bibliothek nach Hause zu kommen. Ich stieg über die telefonierende Ella, die sich ihre Fußnägel türkis lackierte, und kletterte durch das Küchenfenster hinaus auf das Gerüst. Der alte Mann lag wieder auf der Schlafcouch, die Frau saß vor ihm, etwas von mir abgewandt, und las ihm vor. Ich sah sie im Profil, den hohen Hinterkopf und die leicht gekrümmte Nase. Ich stellte mir vor, wie sie, nach dem ersten Erschrecken, Gefallen daran fand, sich als Mann zu verkleiden. Vielleicht tat sie es nachher immer wieder, band ihre Brüste mit einer hautfarbenen Bandage flach an den Körper, versteckte ihr Haar unter einer Mütze oder einem Hut, trug ein Männerhemd oder einen Anzug. Spätabends verließ sie ihre Wohnung, so dachte ich mir das aus, setzte sich an den Tresen einer Bar im Northern Quarter oder in der Canal Street und bestellte ein dunkles Bier oder einen doppelten Whiskey. Die Männer neben ihr, so stellte ich es mir vor, musterten sie kurz, und sie wurde unsicher, zündete sich eine Zigarette an, hustete, da sie den Rauch zu tief in die Lunge zog, weil sie es nicht gewohnt war zu rauchen, dann jedoch begriff sie, dass sie nicht auffiel. Vielleicht fiel sie doch auf, einer hübschen jungen Frau, deren Blick sie immer wieder traf, doch bevor diese Frau weiter nachdenken konnte, hatte der magere junge Mann mit der Schirmmütze und dem blauen Hemd seinen Whiskey bezahlt und war gegangen.
    Ich versuchte, den Titel des Buches zu erkennen, aus dem die Frau dem alten Mann vorlas, was mir jedoch nicht gelang.
    Leo rief nicht an. Ich lief durch die Straßen, abends, nachts, oder auch bei

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