Das weisse Meer
der Schule. Jonas kam später in unsere Klasse, über ein halbes Jahr sprach er mit kaum jemandem, nach einem halben Jahr setzte ich mich neben ihn. Jonas hielt den Kopf geneigt und kritzelte undeutbare Figuren auf das Blatt Papier, das er vor sich hatte; ich blickte aus dem Fenster. Wir redeten nur, wenn wir gefragt wurden, und dann war es, als würden wir aus den tiefsten Träumen aufwachen, was die Lehrer zu ärgerlichen Bemerkungen veranlasste. Oft antwortete ich für ihn, da Jonas in tieferen Träumen weilte. An manchen Tagen gingen wir gar nicht erst zur Schule, sondern lungerten im alten Botanischen Garten herum, zwischen Pflanzen, deren lateinische Namen uns mehr sagten, als wir in der Schule verstanden hätten; bei schlechtem Wetter tranken wir schwarzen Kaffee im Bahnhofsbuffet. Wir spielten Backgammon oder Scrabble oder überlegten, wohin wir fahren könnten, wenn wir Geld hätten. Die Züge mit den möglichen Zielen hielten jedoch nicht an dem Provinzbahnhof, sondern schossen vorbei, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln. Wir saßen auf Holzbänken mit orangefarbenen Bezügen unter braunen Plexiglaslampen aus den siebziger Jahren, die heute wahrscheinlich modern wären, aber heute existierte dieses Bahnhofsbuffet, am Bahnhof unserer Kindheit, gar nicht mehr, es gab nur noch einen Kiosk und einen Take-away-Pizzastand. Das Scrabblespiel wurde uns bald langweilig, außerdem stritten wir uns, ob es dieses Wort gäbe und ob jenes existiere, ob nun Fremdwörter und Namen und zusammengesetzte Wörter verboten waren, wir waren uns nie einig. So hörten wir auf mit dem Spiel und legten Jonas’ Namen, warfen die Steine durcheinander und legten mit denselben fünf Steinen meinen Namen. Das wussten wir zwar schon, dafür brauchte man keine Scrabblesteine. Wir sind dasselbe, nur anders, sagte Jonas und blickte mich bedeutungsvoll an. Dann legten wir die Namen unserer Lehrer und Mitschüler, mischten die Steine und gruppierten sie neu. So tauften wir Fabienne Müller, das rothaarige Mädchen, in das Jonas verliebt war, Munli Bärenelfe, der Streber Achim Seiler hieß Sir Alchemie, und der jähzornige Christian Keller wurde zum Trinker Achilles, die Mathematiklehrerin Ute Hermann hieß Henne Armut. Jonas erzählte von einer Dichterin, die Anagrammgedichte geschrieben habe, ein Leben lang, verrückt sei sie geworden, oder man behauptete das nur, jedenfalls habe man sie in die Irrenanstalt gesteckt.
Ich zählte noch einmal hundert Schwimmzüge, dann verließ ich das Schwimmbad. Draußen herrschte ein Dämmerzustand, obwohl es erst ein Uhr war, die Straße schwankte unter meinen Füßen. Vor meiner Wohnungstür hockte Sami auf der Treppe, ein kleiner, dicker Nachbarsjunge, deshalb dachte ich gar nicht an Bumbar, der nie auf dem Türvorleger auf mich gewartet hatte. Musst du denn nicht zur Schule, fragte ich Sami, er verneinte, folgte mir in die Küche, die Lehrerin habe ihn heimgeschickt, er habe aber keinen Schlüssel für die Wohnung. Sami setzte sich ungefragt hin und trank den Sirup, den ich ihm hingestellt hatte, während ich ein Käsebrot aß, weil ich fürchtete, gleich umzukippen. Der Karton mit der toten Katze stand immer noch in einer Ecke. Sami sagte, dass er auch ein Käsebrot wolle. Was hast du denn angestellt, fragte ich nochmals. Nichts, sagte Sami, strich sich eine schwarze Haarlocke aus der Stirn und schob mit der anderen Hand das Käsebrot in den Mund. Mein Bruder hat Fischstäbchen gekocht, sagte er. Später habe er sich erbrechen müssen, in der Schule, deshalb habe ihn die Lehrerin nach Hause geschickt. Sein Bruder habe immer gesagt, mehr als zehn Fischstäbchen könne man unmöglich essen. Ich habe sechzehn geschafft, sagte Sami stolz und aß sein Käsebrot auf.
Abends kochte ich Pasta mit einer einfachen Sauce, als ich das Nudelwasser abgoss, kam Jonas in die Küche. Ich habe eigentlich keinen Hunger, sagte er, dann aß er doch einen großen Teller. Wir müssen Bumbar wegbringen, erklärte ich, noch bevor wir fertig gegessen hatten, sonst fängt der Kadaver an zu stinken. Ich wollte Jonas das Essen verderben, aus einer unbestimmten Wut. Jonas merkte nichts. Lass uns das morgen besprechen, meinte er, ich bin ziemlich müde. Ich fragte mich, woher seine Müdigkeit kam, wenn er die ganze Zeit schlief. Ich finde bis morgen raus, wohin wir die Katze bringen können, sagte Jonas, und ich sagte: Kein Kater war je so groß und so weich und so flauschig wie Bumbar. Jonas sagte nichts darauf.
Jonas war mein
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