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Das weisse Meer

Das weisse Meer

Titel: Das weisse Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Sourlier
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Bruder, jedenfalls sagten das alle, sie nannten uns die Zwillinge, dabei sahen wir uns gar nicht ähnlich. Jonas hatte Klavier gespielt, früher, er war gut, er spielte Chopin und Beethoven-Klavierkonzerte schon mit zwölf. Jonas würde auf das Konservatorium gehen, eine internationale Solokarriere läge drin, sagte der Musiklehrer, er habe das absolute Gehör. Man könne rülpsen oder furzen, und Jonas würde noch bestimmen können, ob der Ton ein F oder ein Fis sei, ätzten unsere Mitschüler. Nur Jonas äußerte sich nicht dazu.
    Bei mir fiel das Schuleschwänzen kaum auf, da ich schon immer viel krank gewesen war und die Lehrer mein Fehlen weiterhin meinem schlechten Gesundheitszustand zuschrieben. Manche Lehrer hatten sogar schon vergessen, dass ich überhaupt noch in dieser Klasse war. Mir wurde zum Beispiel klar, dass es besser war, dem mir verhassten Sportunterricht ganz fernzubleiben, denn auf dem Mattenwagen sitzend und lesend musste ich der Turnlehrerin jede Woche als persönliche Beleidigung erscheinen. Jonas jedoch hatte andere Probleme. Sie drohten ihm kurz vor dem Abitur mit einem Schulverweis, der jedoch nicht durchgesetzt wurde. Stattdessen bekam er schlechte Noten. In den mündlichen Prüfungen war Jonas nicht schlecht, er fand es nur nicht notwendig, jemandem Sachverhalte genauer zu erklären, die er für logisch erachtete. Deshalb hatte er zu den meisten Fragen nicht viel zu sagen. So kam es, dass Jonas als Einziger des Jahrgangs durch die Abiturprüfung fiel. Jonas tat so, als kümmere ihn dies nicht, und ich war mir sicher, dass er überzeugt davon war, dass es ihm nichts ausmache.
    Nach dem Abitur zog ich in die Stadt, um zu studieren, oder ich begann zu studieren, um in die Stadt zu ziehen. Ich fand einen Job in dem Restaurant, in dem meine Freundin Anna arbeitete. Ich hasste den Job. Dir vertraue ich, sagte der böse Koch, es klang wie eine Drohung. Dafür teilte er mir regelmäßig mit, wie schlampig Anna oder eine der anderen Serviererinnen sei, oder verdächtigte sie, Geld zu klauen. Der kleine Koch war achtzehn und in der Lehre, der schöne Koch war eitel und uninteressant. Die Bezeichnung kam von Anna, und sie meinte es ironisch. Nachdem ich am ersten Tag einem Gast den Milchkaffee über seine weiße Sportjacke geleert hatte, lernte ich, mich unauffällig zu verhalten, damit auch niemandem weiter auffiel, dass ich keine drei Teller in einer Hand tragen konnte. Nur einmal wies mich ein Gast darauf hin, dass ich mit meiner schönsten Schrift an die Tafel geschrieben hatte: Pasta mit Suppengemüse . Natürlich hätte es Sommergemüse heißen müssen, nur wegen der Gemüsesuppe, die oben aufgeführt war, verschrieb ich mich, und an diesem Tag bestellte auch niemand das Gericht.
    Jonas hätte trotz des verpatzten Abiturs aufs Konservatorium gehen können, aber Jonas klagte plötzlich über unklare Ohrenschmerzen, er hörte Geräusche, wo keine waren, und hielt sich die Ohren zu, wenn es tatsächlich laut war. Er ging zu mehreren Ärzten, die wenig herausfanden, und schließlich hatte er keine Lust mehr und fuhr weg, als glaubte er, das würde etwas helfen, die Geräusche würden in der Stille der mongolischen Wüste leiser werden. Er hatte etwas Geld geerbt und brauchte ohnehin wenig. Ich bekam einmal im Monat eine Karte. Jonas schrieb nicht viel, außer dass es heiß sei oder kalt und dass es ihm gutgehe und: Sei umarmt, J.
    Dann war Jonas wieder da, noch magerer als vorher und braungebrannt kam er in das Restaurant, der böse Koch stellte ihm einen Teller mit Essen hin, und ich dachte, Jonas, der kann doch dieses Schnitzel nicht essen, Jonas ist doch Vegetarier, doch Jonas aß alles restlos auf und bedankte sich. Dass Jonas bei mir einziehen sollte, war nicht geplant, aber er konnte nicht zurück in das Dorf zu seinen Eltern, dachte ich, und ich hatte ein leeres Zimmer, seit meine vorherige Mitbewohnerin ausgezogen war. Drei Tage lang saßen die Wohnungsinteressenten im Halbstundentakt bei mir am Küchentisch, tranken Apfelschorle und erzählten, was sie alles machten im Leben und sagten, die Katze ist süß und was machst du so? Ich führte eine Liste mit Kreuzchen, Nullen und Totenköpfen, bis dahin gab es nur Nullen und Totenköpfe. Jonas kam mit einigen Kartons und einer Matratze. Hast du keine Möbel? fragte ich, und Jonas sagte, er habe versucht, seinen Besitz schmal zu halten.
    Jonas und ich sahen uns wenig, ich arbeitete tagsüber und schlief nachts, und Jonas schlief tagsüber, und

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