Das weisse Meer
und warf schließlich ein paar Zeitschriften und Bücher, die in einem halbleeren Karton lagen, auf den Boden. Jonas lag seitlich da, mit angewinkelten Beinen, ein Laken um seinen mageren Körper gehüllt, die Wange auf seine flache Hand gelegt, da er kein Kissen besaß, weil er keine Kissen mochte oder weil er den Besitz eines Kissens unnötig fand, wie er vieles unnötig fand, sogar essen und schlafen. Doch gerade jetzt schlief er, tief und ruhig, und auch als ich die Tür nochmals einen Spaltbreit öffnete, um zu schauen, ob ich ihn vielleicht doch geweckt hatte, wachte Jonas nicht auf.
In der Küche lag die tote Katze auf einer alten Zeitung, der Künstler saß am Tisch, ich hatte ihn beinahe vergessen. Ich hatte ihm noch nicht einmal ein Glas Wasser angeboten. Dies tat ich nun und versuchte dann, den Katzenkadaver in die Schachtel zu stopfen, doch diese war zu klein. Der Kater war tot, ausgestreckt und steif fast doppelt so groß, wie er lebendig gewesen war. Ich fluchte und ging auf den Dachboden, da ich nicht nochmals in Jonas’ Zimmer gehen wollte, da fand ich schließlich einen größeren Karton. Danach wusch ich mir die Hände. Keiner von uns kam auf die Idee, die Sache fortzusetzen, die wegen der Federn und der toten Katze unterbrochen worden war.
Am nächsten Tag ging ich schwimmen. Der Künstler war schon weg, als ich aufwachte, vielmehr hatte ich ihn noch durch das Zimmer gehen sehen, ein Schatten vor dem Streifen Staub in der Luft, der von der Morgensonne erhellt wurde. Das Bild der toten Katze schob sich davor, und ich schloss die Augen wieder. Nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, erhob ich mich und machte Kaffee. Jonas schlief noch.
Vormittags war das Hallenbad nicht besonders voll, trotzdem wäre ich schon vor dem Drehkreuz beinahe wieder umgekehrt. Ich erinnerte mich an den Chlorgeruch, der sich mit den Düften verschiedener Shampoos und Deodorants und dem Körperfischgeruch vermischte, und mir wurde übel. Hastig zog ich mich um und stopfte die Kleider in das Schließfach.
Im Duschraum ließ ich das heiße Wasser lange auf die Kopfhaut prasseln, hielt dann die Füße kurz unter die Düse mit dem weißlich schäumenden Fußpilzdesinfektionsmittel und lief schnell über den hellblau gefliesten Boden zum Schwimmbecken. Das Wasser im Schwimmbecken erschien mir zu kalt. Ich schwamm auf der Seite der alten Frauen, die sich im Zeitlupentempo zu bewegen schienen, die Köpfe in rosafarbenen Badekappen aus dem Wasser gereckt. Auch ich hielt meinen Kopf über Wasser und tauchte nur selten für mehrere Züge unter, bis ich keine Luft mehr bekam und schwer atmend wieder auftauchte. Eigentlich hasste ich Hallenbäder; die Umkleideraumgespräche der Frauen, die überfreundlichen Bademeister in schwarzen Shorts und gelben T-Shirts, die Sportschwimmer, deren vorbeikraulende Eisenkörper den eigenen zuweilen streiften, und die Jugendlichen, die von allen Seiten kreischend ins Becken sprangen, obwohl an jeder Wand stand: Seitlich einspringen verboten! Man durfte nie eine Pause machen, sonst könnte einen allenfalls jemand erblicken, sich die Schwimmbrille in die Stirn streifen, das Wasser aus den Haaren schütteln und sagen: Dich kenne ich doch von irgendwoher.
Während des Schwimmens begann ich, stumm Gedichte aufzusagen, die ich in der Schule auswendig gelernt hatte: Aufsteigt der Strahl und fallend gießt er voll der Marmorschale Rund … Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass ihn nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben … Ich hatte zu wenige Gedichte auswendig gelernt in der Schule, als dass es für mehr als drei Längen gereicht hätte. Ich schwamm weiter und begann, russische Verben zu konjugieren: lesen, schreiben, arbeiten, sich ausruhen, sämtliche mir bekannten russischen Verben reichten für weitere drei Längen, dann fing ich an, die Schwimmzüge zu zählen. Ich war noch nicht über dreihundert, als jemand mir beinahe auf den Kopf sprang und ich die Zahl vergaß und wieder bei Null anfangen musste. Ich dachte an Jonas. Ich fragte mich, ob auch er zählte, wenn er nachts allein in seinem Zimmer saß. Oder ob er einfach gar nichts tat.
Jonas war mein Bruder, jedenfalls sagten wir dies so, mangels einer anderen Bezeichnung oder damit wir es nicht näher definieren mussten. Wir hatten denselben Namen, jedenfalls wenn man die Buchstaben anders stellte, wir waren überzeugt, das würde etwas bedeuten. Wir kannten uns seit
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