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Das Werk - 14

Das Werk - 14

Titel: Das Werk - 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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einer romantischen Ballade, keine laubüberdachte, geheimnisumwitterte Wegbiegung, kein von Stolz und Ewigkeit kündendes großes Grab. Es war eben der neue, gradlinig angelegte, mit Nummern versehene Friedhof, der Friedhof der demokratischen Hauptstädte, auf dem die Toten auf dem Boden von Aktenkästen zu schlafen schienen, auf dem jeden Morgen die Woge der Neuankömmlinge die Woge vom Vortag verdrängte und ersetzte und alle im Gänsemarsch wie bei einem Fest unter den Augen der Polizei vorüberzogen, damit es zu keinen Stauungen kam.
    »Verflixt!« murmelte Bongrand. »Heiter ist es nicht hier!«
    »Wieso?« fragte Sandoz. »Es ist bequem, man hat Luft … Und sehen Sie doch, wie hübsch die Farben sogar ohne Sonne sind!«
    Tatsächlich nahmen unter dem grauen Himmel dieses Novembervormittags in den Kälteschauern des schneidenden Nordostwinds die mit Girlanden und Perlenkränzen beladenen niedrigen Gräber sehr feine Farbtönungen von einer bezaubernden Zartheit an. Je nach der Farbe der Perlen waren darunter ganz weiße, ganz schwarze; und dieser Gegensatz schimmerte sanft inmitten des ausgeblichenen Grüns der gnomenhaften Bäume. Auf diese für fünf Jahre gemieteten Grab stellen erschöpfte sich der Totenkult der Familien: hier lag in seiner Blütenpracht überein andergehäuft alles, was vor kurzem der Allerseelentag ganz neu ausgebreitet hatte. Allein die natürlichen Blumen in ihren Papiermanschetten waren bereits verwelkt. Einige gelbe Immortellenkränze erstrahlten wie frisch ziseliertes Gold. Aber vor allem waren da Perlen, ein Perlengeriesel, das die Inschrift verbarg, die Steine und die Einfassungen verdeckte, Perlen, angeordnet als Herzen, als Blumengewinde, als Medaillons, Perlen, mit denen die Gegenstände unter Glas eingerahmt waren, Sinnsprüche, verschlungene Hände, Seidenschleifen, ja sogar Frauenphotographien, gelbe Vorstadtphotographien, armselige Gesichter, häßlich und rührend mit ihrem verlegenen Lächeln.
    Und als der Leichenwagen die breite Allee zum Wegestern hinunterfuhr, begann Sandoz, der wieder auf Claude zurückkam, weil er das alles wie ein Maler sah, von neuem zu reden:
    »Das ist ein Friedhof, so wie Claude ihn verstanden hätte, bei seiner Versessenheit auf das Moderne … Zweifellos litt er an sich selber, weil diese zu heftige Schädigung durch das Genie ihn zerrüttet hatte, drei Gramm weniger oder drei Gramm mehr, wie er zu sagen pflegte, wenn er seinen Eltern vorwarf, daß sie ihn so komisch gemacht hatten. Aber sein Übel steckte nicht in ihm allein, er war das Opfer einer Epoche … Ja, unsere Generation hat bis zum Bauch in der Romantik gewatet, und wir sind trotz allem noch von ihr durchtränkt, und wir mögen uns noch so sehr abwaschen und in der rauhen Wirklichkeit baden, der Fleck geht nicht ab, alle Waschmittel der Welt werden den Geruch der Romantik nicht wegkriegen.«
    Bongrand lächelte.
    »Oh, ich habe bis über beide Ohren in der Romantik gesteckt. Meine Kunst ist von ihr genährt worden, ich bin sogar unverbesserlich. Wenn es stimmt, daß mein Erlahmen in letzter Zeit daher kommt, was macht das schon aus! Ich kann die Religion meines ganzen Künstlerlebens nicht abschwören … Aber Ihre Bemerkung ist sehr richtig: ihr andern seid die aufsässigen Söhne der Romantik. So zum Beispiel er mit seiner großen nackten Frau zwischen den Quais, dieses überspannte Symbol …«
    »Ach, diese Frau«, unterbrach ihn Sandoz, »die hat ihn erwürgt. Wenn Sie wüßten, wie er an ihr hing! Niemals ist es mir möglich gewesen, ihn von ihr abzubringen … Wie soll man da einen klaren Blick, ein ausgeglichenes, festes Hirn haben, wenn solche Phantastereien immer wieder im Schädel nachwachsen? – Nach Ihrer Generation ist sogar unsere noch zu verschleimt vor lauter Gefühlsseligkeit, als daß sie gesunde Werke hervorbringen könnte. Eine Generation, zwei Generationen werden vielleicht nötig sein, ehe logisch gemalt und geschrieben wird, in der erhabenen, lauteren Einfachheit des Wahren … Allein die Wahrheit, die Natur ist die mögliche Grundlage, die unerläßliche Versicherung, außerhalb deren der Irrsinn beginnt; und man fürchte nicht, das Werk dadurch zu verflachen, denn das Temperament ist da, das den Schöpfer immer mitreißen wird. Denkt denn irgend jemand daran, die Persönlichkeit zu verleugnen, den unwillkürlichen Daumendruck, der verformt und der unsere eigene armselige Schöpfung ausmacht!« Aber er wandte den Kopf, er fügte jäh hinzu: »Was brennt

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