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Das Werk - 14

Das Werk - 14

Titel: Das Werk - 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Jahrhunderts, der Pessimismus wühlt in den Eingeweiden, der Mystizismus umnebelt die Gehirne; denn wir mochten die Gespenster noch so schön mit den großen Schlaglichtern der Analyse verscheuchen, das Übernatürliche hat die Feindseligkeiten wieder eröffnet, der Geist der Sagen begehrt auf und will uns zurückgewinnen, da wir erschöpft und bange Rast machen … Ach, gewiß, ich behaupte nichts, ich bin selber zerrissen. Bloß will es mir scheinen, diese letzte krampfhafte Zuckung der alten religiösen Verstörtheit war vorauszusehen. Wir sind kein Ende, sondern ein Übergang, der Beginn von etwas neuem … Das beruhigt mich, es tut mir gut, zu glauben, daß wir der Vernunft und der Zuverlässigkeit der Wissenschaft entgegenschreiten …« Seine Stimme klang plötzlich anders, sie verriet tiefe Rührung, und er fügte hinzu: »Sofern die Verrücktheit uns nicht ins Schwarze kippt und wir nicht umkommen, erwürgt vom Ideal, wie der alte Kumpel, der dort zwischen seinen vier Brettern schläft.«
    Der Leichenwagen verließ den Querweg Nummer 2, um rechts in den Seitenweg Nummer 3 einzubiegen; und ohne zu sprechen, zeigte der Maler dem Schriftsteller mit einem Blick ein Gräberfeld, an dem der Trauerzug entlangging.
    Hier war ein Kinderfriedhof, nichts als Kindergräber, so weit das Auge reichte, ordentlich aneinandergereiht, durch schmale, regelmäßige Pfade getrennt, wie eine kindertümliche Stadt des Todes. Da waren ganz kleine weiße Kreuze, ganz kleine weiße Einfassungen, die fast unter der Blütenpracht weißer und blauer Kränze verschwanden; und das so sanft getönte, milchig erblauende friedliche Feld schien erblüht zu sein durch diese in die Erde gebettete Kindheit. Die Kreuze erzählten, wie alt die Kleinen waren: zwei Jahre, sechzehn Monate, fünf Monate. Auf einem armseligen Kreuz ohne Einfassung, das aus der Reihe geraten und quer in einen Gang hingepflanzt war, stand lediglich geschrieben: »Eugenie, drei Tage.« Noch nicht sein und schon hier schlafen, abseits wie die Kinder, die bei Familienfeiern am kleinen Tisch essen!
    Aber endlich hatte der Leichenwagen mitten auf dem breiten Weg angehalten.
    Als Sandoz die fertige Grube an der Ecke des benachbarten Vierecks gegenüber dem Friedhof der ganz Kleinen gewahrte, murmelte er zärtlich:
    »Ach, mein alter Claude, du großes Kinderherz, du wirst dich neben ihnen wohl fühlen.«
    Die Leichenträger hoben den Sarg herunter. Mürrisch wartete der Priester im Nordostwind; und die Totengräber standen da mit ihren Schaufeln. Drei Nachbarn waren unterwegs weggeblieben, von den zehn Trauergästen waren nur noch sieben da. Der kleine Cousin, der seit der Kirche trotz des gräßlichen Wetters seinen Hut in der Hand hielt, trat näher. Alle anderen nahmen die Hüte ab, und die Gebete sollten gerade beginnen, da veranlaßte ein schriller Pfiff alle, die Köpfe zu heben.
    An diesem noch leeren Stück am äußersten Ende des Seitenwegs Nummer 3 fuhr auf dem hohen Damm der Umgehungsbahn, deren Gleiskörper den Friedhof überragte, ein Zug vorüber. Die grasbewachsene Böschung stieg an, und geometrische Linien hoben sich schwarz vom Grau des Himmels ab, die durch die dünnen Drähte verbundenen Telegraphenstangen, ein Bremserhäuschen, eine Signalscheibe, der rote, flirrende, einzige Fleck. Als der Zug mit seinem Donnerkrachen vorüberrollte, erkannte man deutlich wie bei einem chinesischen Schattenspiel die Einschnitte zwischen den Waggons, sogar die Leute, die in den hellen Löchern der Fenster saßen. Und die Eisenbahnlinie wurde wieder klar, ein einfacher Tintenstrich, der den Horizont zerschnitt, während in der Ferne unablässig andere kurze Pfiffe riefen, klagten, schrill vor Zorn, heiser vor Leid, abgedrosselt in höchster Not. Dann erscholl unheimlich ein Signalhorn.
    »Revertitur in terram suam unde erat …«120, rezitierte der Priester, der ein Buch aufgeschlagen hatte und sich beeilte.
    Aber er war nicht mehr zu verstehen, eine dicke Lokomotive kam fauchend angefahren, und gerade oberhalb der feierlichen Handlung rangierte sie. Sie hatte eine ungeheure fettige Stimme, ein kehliges Pfeifen von riesenhafter Schwermut. Mit dem Profil eines plumpen Ungeheuers fuhr sie keuchend hin und her. Jäh ließ sie in einem wütenden Sturmesodem ihren Dampf ab.
    »Requiescat in pace«121, sagte der Priester.
    »Amen«, antwortete der Ministrant.
    Und alles wurde hinweggerissen inmitten dieses peitschenden, ohrenbetäubenden Krachens, das mit der anhaltenden

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