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Das Werk - 14

Das Werk - 14

Titel: Das Werk - 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Émile Zola
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Lächeln bewahrte, herabgleiten; dann mußte er sich mit unendlicher Vorsicht bewegen, um seine Beine aus der Fessel ihres Schenkels zu lösen, den er nach und nach in natürliche Haltung zurückschob, als habe er sich von selber gebeugt. Er hatte die Kette endlich zerrissen, er war frei. Ein drittes Rufen trieb ihn zur Eile an, er ging in den Nebenraum hinüber und sagte:
    »Ja, ja, ich komme!«
    Es hellte sich nicht auf, es blieb trüb und traurig, jenes unheimliche Frühdämmerlicht des Winters; und nach einer Stunde erwachte Christine mit einem heftigen eisigen Erschauern. Sie begriff nicht. Warum war sie allein? Dann entsann sie sich: sie war eingeschlafen, ihre Wange an seinem Herzen, ihre Glieder mit den seinen verflochten. Wie hatte er also fortgehen können? Wo mochte er sein? Obwohl sie noch ganz benommen war, sprang sie auf einmal ungestüm aus dem Bett und rannte ins Atelier. Mein Gott, war er zu der anderen zurückgekehrt? Hatte die andere ihn sich zurückgeholt, als Christine glaubte, ihn für immer erobert zu haben?
    Beim ersten raschen Blick sah sie nichts, im schmutzigen, kalten Frühdämmerlicht schien ihr das Atelier öde und verlassen. Aber als sie sich gerade beruhigen wollte, weil sie niemand erblickte, sah sie zu dem Gemälde hoch, und ein furchtbarer Schrei brach aus ihrer weit aufgerissenen Kehle.
    »Claude, oh, Claude …«
    Claude hatte sich an der großen Leiter angesichts seines mißratenen Werkes erhängt. Er hatte einfach einen der Stricke genommen, an denen das Gittergestell an der Wand hing, und er war auf den obersten Tritt gestiegen, um ihn mit einem Ende an der eichenen Querleiste zu befestigen, die er selber eines Tages angenagelt hatte, damit die Sprossen mehr Halt bekamen. Dann war er von oben ins Leere gesprungen. Im Hemd hing er dort, mit nackten Füßen, gräßlich mit seiner schwarzen Zunge und seinen aus den Höhlen getretenen blutunterlaufenen Augen, entsetzlich vergrößert in seiner reglosen Starre, das Gesicht dem Bild zugewandt, ganz nahe dem Weib mit dem wie eine mystische Rose erblühten Geschlecht, als habe er ihr mit seinem letzten Röcheln seine Seele eingehaucht und sie noch mit seinen starren Pupillen angeschaut.
    Christine blieb dennoch aufrecht stehen, aufgewühlt von Schmerz, Entsetzen und Zorn. Ihr Leib war aufgetrieben davon, ihrer Kehle entrang sich nur noch ein Gebrüll, das kein Ende nahm. Sie breitete die Arme aus, streckte sie nach dem Bild aus, ballte beide Fäuste.
    »Oh, Claude, oh, Claude … Sie hat dich zurückgeholt, sie hat dich umgebracht, umgebracht, umgebracht, die Hure!«
    Und ihre Beine knickten ein, alles drehte sich um sie, und sie schlug hin auf den Fliesenfußboden. Das Übermaß an Leid hatte alles Blut aus ihrem Herzen gedrängt, ohnmächtig, wie tot, blieb sie gleich einem weißen Fetzen auf dem Fußboden liegen, elend und erledigt, zerschmettert unter der grausamen Hoheit der Kunst. Über ihr strahlte die Frau mit ihrem symbolischen Götzenglanz, die Malerei triumphierte, sie allein war unsterblich sogar in ihrem Irrsinn.
    Da erst die Formalitäten erledigt werden mußten und der Selbstmord Verzögerungen mit sich brachte, konnte die Beerdigung nicht vor Montag stattfinden, und als Sandoz morgens gegen neun Uhr ankam, standen nur etwa zwanzig Leute auf dem Bürgersteig der Rue Tourlaque. In seinem großen Kummer war er seit drei Tagen ständig auf den Beinen, weil er gezwungen war, sich mit allem zu befassen: zunächst mußte er Christine, die man sterbenskrank aufgelesen hatte, ins Hôpital de Lariboisière118 bringen lassen; dann ging er zur Bürgermeisterei, zum Bestattungsinstitut und zur Kirche, bezahlte überall, fügte sich bei aller Gleichgültigkeit doch dem Brauch, da die Priester diesen Leichnam mit dem schwarzen Ring um den Hals gerne haben wollten. Und unter den Leuten, die da warteten, erblickte er nur Nachbarn, zu denen noch ein paar Neugierige hinzukamen, während sich Köpfe aus den Fenstern reckten und voller Aufregung über das Drama flüsterten. Sicher würden die Freunde noch kommen. Er hatte der Familie nicht schreiben können, weil er die Adressen nicht wußte; und er trat sofort bescheiden beiseite, als er zwei Verwandte ankommen sah, die die drei trockenen Zeilen in den Zeitungen zweifellos aus der Vergessenheit hervorgelockt hatte, in der Claude selber sie gelassen: eine betagte Cousine mit dem zweideutigen Aussehen einer Trödlerin, ein sehr reicher, ordengeschmückter kleiner Cousin, Besitzer eines der

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